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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

24. 10. 2010 - 16:48

Vlog #3: Send Friend Request?

Auf der Viennale trifft man viele Menschen. Und bleibt dennoch einsam wie ein Aardvark.

Freunde ordnen, Freunde verwalten. Zu keiner anderen Jahreszeit wachsen meine virtuellen Beziehungen so sprunghaft, fast möchte ich sagen: unkontrolliert an, wie während der Viennale. So viele Gesichter erblicke ich während dieser Tage, die ich kenne, von anderen Festivals: vielleicht weil man sich einmal in einer überfüllten Diskothek gesehen und gemocht hat, vielleicht weil man Stunden in einer Warteschlange in Cannes nebeneinander gestanden hat, vielleicht auch weil man sich einfach immer wieder sieht, und keiner genau weiß warum. Gestern war ein Socializing-Triumphtag für mich: mindestens zehn verschiedene Menschen habe ich getroffen, bei allen konnte ich mich an die Eckdaten unseres ersten Zusammentreffens erinnern. Und damit Peinlichkeiten ausschließen. Das Warten auf die Beantwortung einer virtuellen Freundschaftsanfrage ist wie das Warten auf das Ende der Welt en miniature. Zurückweisung tut im virtuellen Raum fast genauso weh wie in der wirklichen Welt. Weil das ja schon auch ein Sammelsurium aus Gesichtern und Geschichten meines Lebens ist.

Nein, den Tod irgendeiner Form von Kommunikation oder Interaktion sehe ich darin nicht, eher ein Nachleben und Nachbeben. Eine dänische Kollegin bäckt grad Kuchen, ein philippinischer Freund beschwert sich über den Verkehr in Quezon City, ein Amerikaner programmiert eine Filmreihe und macht Werbung dafür. Community, Community. Verlängerung des Kinos auch, mehr Fantasie für meine Seele. Das was ich brauche. Denn während Festivals steigt meine Einsamkeit direkt proportional zur Anzahl an Menschen, denen ich begegne. Kurze Aufeinandertreffen, freies Plaudern, ein Lächeln: „How are you?“ „What have you seen?“ „Do you have any recommendations?“ Und weiter geht’s. Ewige Nomaden, ewiges Alleinsein mit meinen Gefühlen. Es sind auch zweckmäßige Beziehungen, die dabei entstehen: ganz einfach, da man in derselben Situation ist. Dauernder Transit, mal hier, mal dort: es gibt Menschen, die haben daraus eine Kunst gemacht, die haben gar keine Wohnstätte mehr, sind immer überall.

Allein mit Aardvark

Menschen, die Filme schauen, sind einsam. Weil man letztendlich immer radikal zurück geworfen wird auf die eigenen Befindlichkeiten und Erinnerungen. Vermutlich geht man deshalb so gern ins Kino, weil man in den Sälen gemeinsam allein sein kann. Freilich, man plaudert danach ein wenig, tauscht sich aus, letztendlich aber gibt es während des Films ebenso wie danach nur eine Form der Kommunikation: die mit einem selbst. Darauf läuft alles hinaus. Auf die Selbsterkenntnis. Alles andere ist nur Beiwerk.

Eigenbrötler hab ich gestern Abend auch in Kitao Sakurais Aardvark (der Titel meint einen wenig bekannten, in Afrika beheimateten Ameisenbär) kennen gelernt: der blinde Larry war früher mal alkoholkrank, nimmt jetzt an einer Jiu Jitsu-Klasse von Darren teil. Die beiden Männer liegen auf den Matten, um sie herum rauscht die Stadt vorbei: ein Fuß hinterm Kopf, hier ziehen, da drücken, wie ein Tanz sieht das aus für mich. Später ist Darren dann tot, Larry geht mit einer befreundeten Stripperin auf die Suche nach den Tätern. Mit dem Thriller-Element geht „Aardvark“ seine Leichtigkeit, die unbedingte Konzentration auf die Leben dieser beiden außergewöhnlichen Männer verloren: die Neonschilder leuchten, der Untergrund wartet darauf erobert zu werden, auf dem Soundtrack brummt es retrofuturistisch, ganz so als wären wir in die Achtziger Jahre zurück gestürzt. Die Auflösung bleibt unbefriedigend, da Kitao Sakurai kein Thema heraus gearbeitet hat: bewegt er sich erstmal von seinen Figuren weg, überantwortet sich den Mechanismen einer Genre-Erzählung, bleibt nur Luft übrig.

Männer, Jiu Jitsu

Kitao Sakurai, USA/Argentinien 2010, Viennale

Harte Knochen

Ganz anders die monolithische, unverrückbare Qualität von Bone: Larry Cohens erster Film, eine hundsgemeine und bestechend ehrliche Gesellschaftsdekonstruktion mit allfälligen Exploitation-Einschlägen zeigt ein Oberklassepaar in ihrem luxuriösen Beverly Hills-Heim (der Untertitel des Films: A Bad Day in Beverly Hills). Der Nervenzusammenbruch aufgrund einer im Swimming Pool-Abfluss ersoffenen Ratte legt sich, als ein farbiger Mann dieselbige beseitigt: wie das Nagetier in die hermetisch abgeriegelte Wohlstandswelt gekommen ist, so zerreißt dieser Bone, den die Bürgerlichen aufgrund seiner Hautfarbe anfangs als harmlosen Proletarier identifizieren, die Sorglosigkeit der Sorglosen: beinahe naturgewaltig zerrt er die harten Wirklichkeiten der Frühsiebziger in die glatt polierten Oberflächen der WASP-Welt, unter denen alles verwest.

Mann, Frau

Blue Underground

Der Sohn wird angeblich gerade als Hubschrauberpilot in Vietnam zum guten Amerikaner, sitzt aber eigentlich im Gefängnis für versuchten Hasch-Schmuggel. Die Gegenkulturen haben keinen Platz in dieser Zelle; abends geht man gern polynesisch essen, vor allem die exotischen Cocktails sind empfehlenswert. Bone setzt ein Ultimatum: der Mann hat seine Konten zu plündern, ansonsten vergewaltigt er die blonde Frau und schneidet ihr die Kehle durch. Aber es kommt anders: der Fremdkörper wird zum Dynamo, der die Risse in der amerikanischen Gesellschaftsordnung verbreitert. Schleichend passiert die Transformation: Bone trägt plötzlich Polohemden und fährt Luxusautos, die weiße Frau trägt das dreckige Gewand des Schwarzen, während ihr Mann von seiner (kriminellen) Vergangenheit eingeholt wird. „Bone“ ist ein unverhohlen zerrissener Film, angefüllt mit utopischen Momenten, die von einem tristen Finale wieder zerschlagen werden. Yes, we can’t!

Empfehlungen für den Montag

Guest

25.10. 16:00 Uhr Metro
27.10. 13:30 Uhr Metro

Der spanische Regisseur José Luis Guerín legt einen aufregend vielstimmigen Meta-Festivalfilm vor: mit seinem letzten Werk tourt er quer um den Erdball, verlässt die Festival-Ghettos und geht auf Reisen, zu den Menschen und ihren Leben. Aufschlussreiche, widersprüchliche Beobachtungen folgen, Begegnungen mit Predigern und schwulen Kubanern. Fast muss man sagen, bei so viel Leben braucht’s das Kino nimmer. Wenn’s nicht ein Film wär, in dem man all das erleben darf.

Jungs

osé Luis Guerín, E/Kuba/I/F/Kolumbien/USA/ u.a. 2010, Viennale

Winter’s Bone

25.10. 18:00 Uhr Gartenbau
30.10. 11:00 Uhr Urania

Die unorthodoxe Verfilmung eines Daniel Woodrell-Romans begleitet die jugendliche Ree bei der aufreibenden Suche nach ihrem verschwundenen Vater. Sozialrealismus trifft auf Exploitation, das Genre reibt sich an den Wirklichkeiten: gesellschaftliche Kälte trifft auf Winterstürme, das Resultat ist ein eindringliches Potpourri der Elends-Americana, aufregend, provokant, außergewöhnlich.

Mädchen

Debra Granik, USA 2010, Viennale

La vie au ranch

25.10. 16:00 Uhr Urania
26.10. 23:00 Uhr Stadtkino

Der französische Jungmädchenfilm im Jahr 2010: eine Handvoll Hipster plaudert sich um Kopf und Kragen, das Existenzielle und das Vulgäre tänzeln hier Hand in Hand durch schicke Altbauwohnungen, zwischendrin wird geflirtet und hinter geparkte Autos gekotzt. Sophie Letourneur fängt das Zärtliche und das Grausame dieser ewigen Zeit in beiläufig-poetischen Bildern ein: irgendwann setzt es eine Landpartie. Zwischen grasenden Kühen und in sich ruhenden Bauern justiert sich das Gesellschaftsbild ganz von selbst. Ziemlich magisch.

Mädchen

Sophie Letourneur, F 2009, Viennale