Erstellt am: 30. 10. 2010 - 16:11 Uhr
Von Genossinnen und Ostblocknutten
Sofi Oksanens Roman "Fegefeuer" beginnt 1992 auf einem kleinen, einsamen Bauernhof in West-Estland. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die Republik gerade ein Jahr unabhängig - alles Russische wird geächtet - da entdeckt die alte Aliide Truu in ihrem Vorgarten eine junge Russin, verstört und geschlagen, auf der Flucht vor ihren Zuhältern.
Widerwillig nimmt sie das Mädchen bei sich auf, pflegt ihre Wunden mit selbstgebrauten Kräutertinkturen, lässt sich beim Einkochen von Himbeeren helfen, verliert aber keine Sekunde ihr Misstrauen gegen diese Zara aus Wladiwostok. Was verschlägt sie auf Aliides abgelegenen Hof? Alles, was sie bei sich trägt, ist eine von Hand gezeichnete Landkarte und ein vergilbtes Foto, das Aliide als junges Mädchen gemeinsam mit ihrer Schwester zeigt.
Das Persönliche ist politisch - und umgekehrt
kiwi
Von dieser engen Stube aus eröffnet Sofi Oksanen historische Räume, die mehr als ein halbes Jahrhundert estnischer Geschichte umfassen. Nach einer kurzen Phase der Unabhängigkeit zwischen erstem und zweitem Weltkrieg gelangt Estland ab 1940 unter sowjetische, dann unter deutsche und schließlich wieder unter sowjetische Besatzung. RussInnen werden angesiedelt, Kolchosen gebildet, die EstInnen zu Zehntausenden in die sibirischen Gulags deportiert.
Aliides Argwohn gegenüber Zara, gegenüber den Menschen überhaupt, nährt sich aus den Erfahrungen, die sie in jener Zeit gemacht hat. Die Sowjets haben sie mehrmals verhört, beim letzten Mal gefoltert und missbraucht, weil sie einen estnischen Widerstandskämpfer bei sich versteckt hielt. Aus Angst vor weiteren Übergriffen denunziert sie ihre Schwester und heiratet zur Tarnung einen tadellosen kommunistischen Parteifunktionär, der ohne es zu wissen mit dem Staatsfeind jahrelang unter demselben Dach lebt. Letzten Endes erscheint Aliide selbst als "alte, rote Babuschka", deren Haus die jungen estnischen Patrioten mit Steinen bewerfen.
Parallel dazu entwirft die Autorin das Schicksal der völlig verunsicherten Zara, die sich von der russischen Mafia in den verheißungsvollen Westen locken lässt und in einer heruntergekommenen Berliner Zweizimmerwohnung als Ostblocknutte endet.
Anhand der Geschichten dieser beiden Frauen, die sich im Verlauf einiger Tage vorsichtig einander annähern und dabei zögernd ihre Geheimnisse preisgeben, zeigt Oksanen, dass sich die Gewalt politischer Systeme, ganz egal welche Interessen oder Ideologien dahinter stehen, immer in besonderer Weise gegen Frauen richtet.
Alles wiederholte sich. Obwohl der Rubel von der Krone abgelöst worden war, die Militärmaschinen seltener über ihren Kopf hinwegdonnerten und die Offiziersfrauen ihre Stimmen dämpften, obwohl aus den Lautsprechern am Langen Hermann jeden Tag das Lied der Unabhängigkeit erscholl, kam doch immer ein neuer Chromlederstiefel, kam doch immer ein neuer Stiefel, ein ähnlicher oder ein etwas anderer, aber immer trat er auf dieselbe Weise auf den Kehlkopf.
Swinging on the Iron Curtain
Sofi Oksanen (*1977), die aktuell erfolgreichste Autorin in Skandinavien, hat Literaturwissenschaft und Dramaturgie studiert. Als Feministin beteiligt sie sich durch Kolumnen und Talkshowauftritte aktiv am öffentlichen Diskurs in Finnland. Für "Fegefeuer" hat sie zahlreiche Preise erhalten, darunter auch den "Literaturpreis des Nordischen Rates", die wichtigste Auszeichnung für SchriftstellerInnen in Nordeuropa. Sie lebt und arbeitet in Helsinki.
Toni Härkönen
Sofi Oksanen hat das Lebensgefühl unter dem sowjetischen Regime selbst kennengelernt. Sie ist zwar in Finnland geboren und aufgewachsen, das ja als marktwirtschaftlich organisiertes Land nie Teil der Sowjetunion war, ist aber mütterlicherseits in Estland verwurzelt und spricht die Landessprache. Als Kind hat sie die Sommermonate oft bei ihrer Großmutter in der estnischen Provinz verbracht. Deren Hof war wie der Aliides in eine Kolchose eingegliedert. Die Zeit an diesem für Menschen aus dem Westen sonst nicht zugänglichen Ort und die Geschichten der BewohnerInnen haben ihr genügend Einblick verschafft, um das kommunistische Estland wahrhaftig zu beschreiben. Gleichzeitig hat sie sich die nötige Distanz bewahrt, um nicht parteiisch zu werden. Denn anders als viele andere (Halb-)EstInnen ihrer Generation hat sie in ihrer Familie einen relativ offenen Umgang mit der Sowjetvergangenheit erlebt. Aufrichtige Vergangenheitsbewältigung sei ein junges Phänomen, erzählt sie im Interview. "Estland befindet sich erst seit kurzem in einer Phase der Rekonstruktion von Erinnerung und Geschichte. Es gibt viele Gedenkveranstaltungen und Zeitzeugenberichte, aber in der Kunst ist die jüngere Vergangenheit kein besonders populäres Thema. Estnische Autoren schreiben kaum darüber."
"Fegefeuer" setzt somit den Anfang zu einer breitenwirksamen Auseinandersetzung mit einem Land, das bisher wenig beachtet war - das wirtschaftlich zwar boomt, aber immer noch keine Träume erfüllt. Wie Zara wollen es viele junge Frauen verlassen, erzählt Oksanen, auch unter fragwürdigen Umständen. "Immer wieder hört man von dubiosen Vermittlungsbüros, die Geschäfte fürs organisierte Verbrechen machen und die Mädchen ins Ausland schicken, in dem Glauben, sie würden dort als Nanny oder Dienstmädchen in einem Hotel arbeiten."
Weitere Buchrezensionen
Sofi Oksanen zeichnet diese Entwicklung in postkommunistischen Staaten wie Estland und Russland sehr deutlich nach. Sie wechselt zwischen Zeiten und Erzählperspektiven ihrer Protagonistinnen und stellt zwischen Folter und Deportationen unter Stalin unmittelbare Zusammenhänge zum "modernen" Frauenhandel her. Aus KGB-Agenten werden Zuhälter, für die es, egal unter welchen politischen Vorzeichen immer nützlich zu wissen ist, "wie man eine Frau bestraft". Gerade, wenn man selbst eine Familie zu versorgen hat oder auf ein eigenes kleines Unternehmen spart.
"Fegefeuer" entwickelt sich so vom anfänglich familiären Kammerspiel zu einer atemlosen Verfolgungsjagd, die die Gewalt politischer Systeme deutlich spürbar macht.