Erstellt am: 18. 10. 2010 - 18:03 Uhr
"Nichts. Was im Leben wichtig ist."
Eben diese drei Sätze habe ihr eine innere Stimme zugeflüstert und ihr war klar, dass sie Antworten suchen, dass sie ein Jugendbuch schreiben muss, erzählt Janne Teller. Flüsternde Stimmen? Fantasy? Elfen? Keineswegs - Janne Teller kennt die grausame Realität besser als ihr lieb ist - die Politikwissen-schaftlerin hat jahrelang für internationale Organisationen u.a. die UNO in Krisengebieten Friedensprozesse begleitet - zuletzt nach dem brutalen Bürgerkrieg in Mosambik. Da habe sie den Glauben an das Leben kurzzeitig verloren und entschlossen, ihre eigenen Geschichten zu schreiben.
"Nichts bedeutet irgendetwas,
das weiß ich seit Langem.
Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun.
Das habe ich gerade herausgefunden."
sagt Pierre Anthon am ersten Schultag nach den Ferien, packt seine Sachen zusammen und verlässt die Schule, um fortan auf einem Baum zu sitzen und seine Mitschülerinnen zu bewerfen - nicht nur mit Pflaumen sondern vielmehr mit seinen neuesten Erkenntnissen:
"Alles ist egal" schrie er eines Tages. "Denn alles fängt nur an, um aufzuhören. In demselben Moment, in dem ihr geboren werdet, fangt ihr an zu sterben. Und so ist es mit allem."
(...)
"In wenigen Jahren seid ihr alle tot und vergessen und nichts, also könnt ihr genauso gut sofort damit anfangen, euch darin zu üben."
(...)
Das Ganze ist nichts weiter als ein Spiel, das nur darauf hinausläuft, so zu tun als ob - und eben genau dabei der Beste zu sein."
Die MitschülerInnen sind äußerst verstört. Sie glauben an ihre Zukunft als bedeutende Personen und wollen den nihilistischen Pierre Anthon davon überzeugen, dass es sehr wohl Dinge mit Bedeutung gibt. Diese sammeln sie in einem stillgelegten Sägewerk. Erst harmlose Sachen wie Bücher, Ohrringe oder die grünen Sandalen der Erzählerin Agnes. Halbhohe grüne Sandalen, die Agnes nach einem halben Jahr Bettelei letztlich im Schlussverkauf von ihrer Mutter erhalten hat.
Wer etwas hergeben - also opfern - musste, darf jeweils das nächste bedeutende Ding fordern. Die Jugendlichen werden immer böser und grausamer - je stärker der Schmerz desto ärger der Verlust desto größer die Bedeutung.
Schnell eskaliert die Sammlerei. Da wird ein Gebetsteppich gefordert, der Sarg des kleinen Bruders und die Unschuld eines Mädchens.
In ihrem Bedeutungsfanatismus und unter Gruppenzwang scheinen die Jugendlichen jedes Mitgefühl zu verlieren - notfalls schaut man auf sein eigenes Opfer - sieht die grünen Sandalen - und findet darin alles andere gerechtfertigt.
"Und als sie zwei Stunden lang geweint hatte und immer noch untröstlich war, hätte ich es fast bereut und dachte, sie hätte vielleicht recht. Aber dann sah ich wieder meine halbhohen grünen Sandalen oben auf dem Berg und gab nicht nach."
Erst als einem Jungen der kleine Finger abgesägt wird, erfahren die Erwachsenen von den Vorgängen im stillgelegten Sägewerk.
Es hagelt Strafen und gibt massig Ärger - und plötzlich auch mediales Interesse an diesem Berg von Bedeutung. Von Kunst ist die Rede. Ein New Yorker Museum will das Zeitdokument kaufen. Alle sind sie beeindruckt - alle bis auf einen - Pierre Anthon. Wenn der Berg schon so bedeutend ist - wie können sie ihn dann verkaufen?
Wir kommen mal groß raus
© 2004 Photographer Morten Holtum Nielsen
"Aus mir wird bestimmt etwas! Und ich werde weltberühmt!" schreit Agnes zu Beginn des Buches in den Pflaumenbaum.
Janne Teller hat das Buch vor zehn Jahren geschrieben -
The next topmodel, die hier und da gesuchten Superstars und die Helden von Morgen gab es damals noch nicht - mehr denn je sei das Buch aber jetzt aktuell, meint Janne Teller.
In unserer Konkurrenzkultur müsse man berühmt sein, um sein Dasein zu bestätigen. Man müsse sich also nicht wundern, wenn Jugendliche Esstörungen haben, sich selbst verletzen, Drogen oder Antidepressiva nehmen.
Pierre Anthons Antworten auf die zornige Agnes, die weltberühmt werden will, lesen sich denn auch wie Burn Out Symptome:
"Aber du wirst feststellen, dass du ein Clown in irgendeinem überflüssigen Zirkus bist, wo alle versuchen, sich gegenseitig vorzumachen, es sei lebensnotwendig, in einem Jahr auf diese Weise gekleidet zu sein und im nächsten auf eine andere. Und du wirst feststellen, dass der Ruhm und die große Welt ausßerhalb von dir sind, dass aber innen nichts ist und dass es auch so bleiben wird, egal was du tust."
hanser verlag
Janne Teller: Nichts: Was im Leben wichtig ist. Hanser Verlag 2010
übersetzt aus dem Dänischen von Sigrid Engeler
Eine ungekürzte Lesung von Laura Maire ist bei Silberfisch erschienen. Die frische kindliche Stimme der Schauspielerin macht "Nichts" noch dramatischer und brutaler
Ein grausames Buch
Kritiker werfen Janne Teller vor, ein grausames Buch geschrieben zu haben. Es gäbe nicht viele Grausamkeiten, resümiert Janne Teller, Vampirromane oder diverse Computerspiele seien viel grausamer.
Was das Buch so unheimlich macht, ist die simple Sprache, mit der Agnes von diesem beginnenden Fanatismus erzählt.
Außerdem gäbe es bei vielen Kritikern Angst vor den großen Fragen nach Bedeutung, nach dem Sinn des Lebens. Damit könnten Jugendliche viel besser umgehen, meint Janne Teller. Und das erklärt wohl auch, warum "Intet" (der Originaltitel) in Dänemark mittlerweile häufig Maturastoff ist - während es anfangs auch Lehrer udn Buchhändler gab, die das Buch verboten hatten.
Doppelbödiges Österreich
Wenn ihr Roman "Nichts" auch in Österreichs Schulen Einzug fände, würde sich Janne Teller besonders freuen - schließlich ist ihre Mutter Kärntnerin. Leider habe man daheim nie Deutsch mit ihr geredet erklärt sie mit einem charmanten Akzent. "Nichts" trifft besonders auf Österreich zu, denn dort sieht sie eine gewisse Doppelbödigkeit - einerseits die fantastische Landschaft, die großartige Musik, die schönen Häuser, anderseits eine unklare Dunkelheit.
Eine Antwort auf die großen Fragen des Lebens weiß Janne Teller auch nicht - aber sie hört immer noch manchmal die Stimme von Pierre Anthon - mit ihm habe sie sich mittlerweile angefreundet, lacht sie. Und weil sie ihm nicht antworten kann, wisse sie, wie fantastisch das Leben ist.