Erstellt am: 18. 10. 2010 - 16:35 Uhr
Fables of the Reconstruction
The death of love, The death of love.
It's nothing to be scared of. It's just a light switching off.
(Mt. Desolation - "Departure")
Das erste Mal ist er Annie Ford vor einigen Jahren bei der Great West Road begegnet. Sie saß dort am Straßenrand auf ihrem Koffer und hoffte, dass sie jemand zu der Farm ihres Vaters mitnehmen würde. In ihrem roten Kleid sah sie so wunderschön und engelsgleich aus. Er sagte zu sich selbst: "Du wärst ein Idiot, sie nicht mitzunehmen." Also tat er es.
Jetzt sitzt er neben ihrem Bett. Er hält ihre kalte Hand. Bald müsste der Doktor kommen. Man braucht schon einige Zeit, um zu der Farm rauszufahren, die sich Annie und er nach ihrer Hochzeit gebaut haben. Der Doktor wird zu spät kommen. Annie ist mitten in der Nacht lautlos aus dem Leben geschieden. Was bleibt, sind die Erinnerungen an das rote Kleid, das ihm vor vielen Jahren ein Stück Himmel geschenkt hat. Im Nebenzimmer hört er Schreie. Ihr kleiner Sohn Tom möchte seine Flasche.
Diese und andere Schicksale sind auf dem Gipfel begraben, den Mitglieder der Bands Keane, Mumford & Sons, The Killers, Noah and the Whale und The Long Winters gemeinsam besteigen: den Mt. Desolation.
Mt. Desolation
Desolation Peak
Wie so vieles andere ist auch diese Idee aus einer Bierlaune heraus entstanden. Tim Rice-Oxley und Jesse Quin, ihres Zeichens Pianist und Bassist von Keane, sprechen im Rausch über Country-Alben und dunkle Geheimnisse des amerikanischen Südens. Außerdem wäre es doch wundervoll, gemeinsam mit Freunden ein Country-Album aufzunehmen, das so gar nicht nach Keane klingt. "Wie so viele Ideen, die man im Leben hat, klang auch diese am nächsten Tag nicht umsetzbar, aber sie wurde trotzdem eine Art running gag zwischen mir und Jesse", erklärt Tim Rice-Oxley. "Im Jänner hatten wir dann etwas Zeit und dachten: Okay, jetzt machen wir das und rufen unsere Freunde an".
Die Truppe, die Rice-Oxley zusammengewürfelt hat, kann sich sehen lassen: So verdingte sich u.a. Killers-Schlagzeuger Ronnie Vanucci hinter den Drums, Mumford & Sons' Winston Marshall am Banjo, John Roderick von den Long Winters an der Gitarre und Tom Hobden von Noah & The Whale ist verantwortlich für die sanft eingestreuten Violinen auf "Mt. Desolation". Dem derzeit herrschenden Trend der "Supergroups", von Them Crooked Vultures, Monsters of Folk bis Tired Pony, wollen Mt. Desolation allerdings nicht angehören: "Wir haben das Projekt nie als Supergroup betrachtet. Eigentlich sind es nur Tim und ich. Es waren zwar viele Leute involviert, aber es gab keinen Konkurrenzkampf."
Alex Lake
Für das Songwriting sind ausschließlich Rice-Oxley und Quin verantwortlich. Aber auf dieser Platte klingt nichts nach Keane, was durchaus als Kompliment gemeint ist. Denn Rice-Oxley, der normalerweise als Nebenerwerb für Gwen Stefani und Kylie Minogue schreibt, bezieht sich auf "Mt. Desolation" auf Country-Musiker aller Generationen, von Hank Williams bis Ryan Adams. Für seine Songideen kramt er verstaubte Legenden des amerikanischen Südens hervor, erzählt von gebrochenen Männerherzen und dem Nirgendwo als einziges Ziel.
Reconstruction of the Fables
"Mt. Desolation" ist wie eine Reise als blinder Passagier auf einem Güterzug durch den amerikanischen Süden. Und auf so einer Reise hört man vielen Geschichten. Zumeist sind es die verbitterten Männer, die vom (Liebes-)Leid erzählen: In "Bridal Gown" ist es die Angebetete, die jahrelang von der Ferne angeschmachtet und verehrt wird. Die Ehe ist im erzkonservativen Süden heilig und daher beginnt der Herzschmerz mit der Vermählung der Angebeteten mit einem anderen: "I just assumed that you would always be around". Auch in "Bitter Pills", begleitet vom einem harmonischen Männer-Chor, sind es der verletzte Stolz und das gebrochene Herz, die ihn zu Tränen rühren: "And I’d love to leave the past behind, forgot that heart was mine. I didn’t even know at the time I had one." Die Reise im Güterzug ist eigentlich eine Flucht vor den eigenen Problemen. Ein Album, das mit einem Song namens "Departure" beginnt, gibt auf diese Weise seine Programmatik vor.
Die Idee ist nicht ganz neu: Wenn man so will, stehen Mumford & Sons mit ihrem neo-romantischen Folk-Rock ihres Debütalbums "Sigh No More" Pate für die Neurosen des Patriarchats auf "Mt. Desolation". Tim Rice-Oxley und Jesse Quin gelingt es aber, die Road-Trips und Fluchtgedanken mit den Mythen des Südens in Verbindung zu bringen. Immer wieder wird man an "Desolation Angels" erinnert, das wegweisende Buch von Beat-Autor Jack Kerouac. Ihm wird nachgesagt, seine autobiografischen Zeilen großteils auf dem Desolation Peak und seinen Fahrten durch die Staaten geschrieben zu haben. Viel Zeit zum Nachdenken also und daher wundert es auch nicht, dass die grandiose Country-Blues-Nummer "The Midnight Ghost" auf "Mt. Desolation" auf Kerouacs Buch "The Dharma Bums" basiert.
Gemeinsam mit Produzent Emery Dobyns (Noah & the Whale, Anthony & The Johnsons) wurden fast alle Instrumente auf "Mt. Desolation" live eingespielt. Musikalisch können allerdings nicht alle Songs das Niveau des mysteriösen "State of our Affairs", des luftigen "Departure" und der Bruce Springsteen-Hommage "Annie Ford" halten. "My My My" kommt zwar herzallerliebst mit einer Bob Dylan-Mundharmonika daher, aber Duette wie "Another Night on my Side" und der Hidden Track am Ende des Albums sind allzu schunkelig ausgefallen und dürften sogar jenen Männern zuviel sein, die eh schon nahe genug am Wasser gebaut haben.
Die zehn Stücke auf "Mt. Desolation" sind zu einem Großteil Popsongs. Es werden zwar alle möglichen Country-Versatzstücke entlehnt, von der säuselnden Fiddle bis zur sehnsüchtigen Mundharmonika, aber trotzdem wird das Konzept "Country-Album" weitaus weniger konsequent durchgezogen als etwa beim American Songbook von Tired Pony. Aber das sollte man den beiden Keane-Mitgliedern nicht übel nehmen.
"We´re all coming home in the end" heißt es ganz am Schluss. Für eine Flucht nach vorn reicht das allemal.