Erstellt am: 13. 10. 2010 - 20:20 Uhr
Geld macht Wissen
Schon wieder muss ich Befangenheit erklären: Ich bin ein Drop-Out. Ich hab nie fertig studiert und es gab noch keinen Moment meines Lebens, in dem ich diese Entscheidung bereut bzw. für irgendwas ein Diplom gebraucht hätte. Aber ich bin auch kein Arzt, kein Architekt, kein Rechtsanwalt und wollte nie einer werden.
Als ich an der Uni war, hab ich mich an der Anglistik, der Komparatistik, Geschichte und (ja doch!) Publizistik probiert, lauter Dinge, von denen sich eigentlich kaum leben lässt, wenn man nicht Lehrer oder Berufsakademiker werden will. Sobald ich die Möglichkeit sah, mit Journalismus Geld zu verdienen, war ich weg von der Uni, ohne den geringsten Plan, irgendwann einmal das Studium fertig zu machen.
Wenn ich das den Leuten in Großbritannien sage, sind sie meistens ein bisschen schockiert. Ein „degree“ haben hier praktisch alle Ab-Mitte-20-Jährigen, mit denen ich zu tun habe. Für diese glückliche Generation hat das bedeutet, sich ein Stipendium zu holen, sich drei Jahre lang in einer fremden Stadt, von Cambridge bis Liverpool, ein temporäres Dasein fernab der Eltern zu organisieren, mit einem Haufen neuer FreundInnen wild anzutrinken, eine Band zu gründen und sich danach ein Diplom abzuholen.
Um 20 Fetzen pro Jahr nach Oxbridge?
Das soll jetzt nicht abschätzig geklungen haben, dieser Lebensabschnitt (zu dem übrigens mangels Wehrpflicht bezeichnenderweise keine Bundesheer- bzw. Zivildienstperiode gehört) ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Florieren der britischen Popmusik, schließlich sind die einflussreichen Ents Secs (die Entertainment-Beauftragten der Studentengewerkschaften) auch diejenigen, die an der Uni Gigs organisieren, was wiederum nicht selten den Grundstock des Publikums neuer Bands schafft. Das alte Schimpfwort „Studentenband“ ist insofern hierzulande ein ziemlich verfehltes (wenngleich nicht unbekanntes). Es gibt keine große Band, die ihre ersten Tourneen nicht mit Uni-Gigs bestritten hat, inklusive Studentenhassern wie den Sex Pistols.
All das könnte sich bald ändern, wenn für die Studierenden und die Unis das Geld empfindlich knapp wird, aber so wie's aussieht, wird es da um noch wesentlich Existenzielleres gehen.
Nämlich:
Die National Union of Students war als Kompromiss für eine einkommensabhängige Studienabgängersteuer (graduate tax) eingetreten - ein Vorschlag, den Lord Browne in seinem Report glatt als unbrauchbar abgeschmettert hat.
Die konservativ-liberale britische Regierung macht sich gerade bereit für die größte Sparwelle seit dem Zweiten Weltkrieg, um das Loch zu stopfen, das die Gegenmaßnahmen zum mit öffentlichen Geldern abgewendeten Bankenkollaps 2008 ins Budget gerissen haben.
Wie dieser Sparkurs sich äußern wird, wird konkret erst am 20. Oktober bei der Präsentation des Comprehensive Spending Review verlautbart, aber in der Zwischenzeit hat bereits ein gewisser Lord Browne, seines Zeichens Ex-Chef von BP (auch eine Art von Qualifikation) einen Bericht zur Finanzierung des Höheren Bildungssystems abgeliefert, der der Regierung die Rutsche für eine radikale Reform legt.
Die Studiengebühren, derzeit begrenzt auf dreieinhalb Tausender pro Jahr (in Pfunden), sollen künftig unbegrenzt hoch, also vom Marktwert des jeweiligen Studiums an der jeweiligen Uni bestimmt sein.
Ein Studium in Oxford oder Cambridge kostet etwa voll zahlende ausländische Studierende schon jetzt an die 18.000 Pfund (umgerechnet jenseits der 20.000 Euro) pro Jahr.

NUS
Nach den vorgeschlagenen Reformen könnten solche Kosten nun auch britischen StudentInnen blühen, nicht zuletzt, weil die Freigabe der Studiengebühren zur Abfederung einer schwindelerregenden Kürzung der staatlichen Förderung für die Unis dienen soll (man munkelt von unfassbaren 75 bis 80 Prozent in Kernfächern wie Englisch).
Um die brutalen Auswirkungen so einer Politik auf die soziale Ungleichheit im Zugang zu höherer Bildung abzuschätzen, genügt ein Blick in die USA, möchte man meinen. Aber das britische System unterscheidet sich vom amerikanischen in einem wesentlichen Punkt:
Gezahlt wird in Großbritannien nicht im Voraus, sondern im Nachhinein per Darlehen, und zwar erst, wenn der/die StudienabgängerIn jenseits der derzeit 15.000, künftig 21.000 Pfund im Jahr verdient. Wer nie so viel verdient, muss nie zahlen, und nach 30 Jahren wird die Schuld getilgt.
Das klingt erst einmal ein Stückchen fairer.
Bis man sich vor Augen führt, dass zu den Studienkosten in Großbritannien auch noch die Lebenskosten der (fürs Studium grundsätzlich in eine andere Stadt verziehenden) Studierenden kommen.
Dass die Gesamtverschuldung nach drei Jahren Uni schon jetzt bei begrenzten Studiengebühren bei durchschnittlichen 25.000 Pfund liegt.
Und dass sich mit 15.000 bis 20.000 Pfund Einkommen nicht nur in einer Stadt wie London kein Auslangen finden lässt, zumindest nicht in der eigenen Wohnung - auch ohne Rückzahlung der Schulden fürs Studium.

NUS
Das britische Studiengebührensystem wurde noch von der Labour-Regierung eingeführt und ging von folgendem Kompromiss aus: Wir wollen, dass 50% der SchulabgängerInnen auf die Unis gehen, das geht sich aber nur aus, wenn die Studierenden diese erhöhte StudentInnenzahl selbst mitfinanzieren.
Dahinter steckten aber ein großer strategischer Fehler und eine umso größere Unehrlichkeit:
Erstens wurde mit der Abschaffung des freien Zugangs zu höherer Bildung mutwillig der gesellschaftliche Konsens zerstört, dass Unis einen Dienst an der Gesellschaft leisten. Bildung wurde vom Kapital der Gesellschaft zum Kapital des Individuums umgedeutet.
Ein auch von der jetzigen Regierung in diesem Zusammenhang gern zitiertes Argument lautet, dass AkademikerInnen im Schnitt 100,000 Pfund mehr verdienen würden und dafür was zurückgeben sollten. Diese Zahl misst sich allerdings am Einkommen derer, die vor langer Zeit studiert haben, als nur 10% der Bevölkerung auf die Uni gingen.
Da heute 34% der SchulabgängerInnen studieren gehen, ist der Mehrwert des Studiums umso geringer. Und selbst dann ist der genannte Wert ein Durchschnittswert, der durch die überproportional hohen Einkommen weniger GroßverdienerInnen verzerrt wird und nichts mit dem realen Einkommen der überwiegenden Mehrzahl der Uni-AbgängerInnen, zum Beispiel LehrerInnen, zu tun hat. Die simple Gleichsetzung von Studium und künftigem Reichtum als Basis der alten polemischen Frage, wie der Rest der Gesellschaft dazukäme sowas mitzufinanzieren, ist also purer Humbug.
Zweitens wurden die Polytechnics (de facto Berufsschulen) und Colleges reihenweise in Unis umbenannt, was logischerweise die Zahl sogenannter StudentInnen in die Höhe schnellen ließ.
Altmodische Ausbildungsformen (wie zum Beispiel eine Lehre) wurden durch Diplomstudien für FriseurInnen, InstallateurInnen, ElektrikerInnen ersetzt. Eine Ausbildungsperiode, in der man verdient, verwandelte sich so in ein Studium, für das man Gebühren zahlt.
Nach außen sieht das dann so aus, als wären die Briten ganz weit vorn in Sachen höherer Bildung und als gäbe es trotz Gebühren einen wahren Run auf die Unis.

NUS
Der Kampf um den von exzellenten Schulabschlussnoten abhängigen Zugang zu den Prestigeuniversitäten ist indessen umso härter geworden, und hat seinerseits den Druck an der Schulfront erhöht, wo „gute“ öffentliche Schulen und Privatschulen systematisch Musterschüler erzeugen, während der Rest die zweite oder dritte Wahl abräumt.
Übrigens interessant zu beobachten, wie schon jetzt, bevor die Studiengebühren noch freigegeben sind, von ExpertInnen in den Medien über „former polytechnics“ gewitzelt wird, die vielleicht pleite gehen werden, weil sie nicht genug Studiengebühren verlangen können werden, um sich damit am Leben halten zu können. Das sind Anstalten zur Weiterbildung der Working Class, die in den vergangenen Jahren dazu gedrängt wurden, sich zu Unis umzuwandeln, bloß um sich jetzt in einem direkten Konkurrenzkampf mit Oxford und Cambridge wiederzufinden.
Wie gesagt, ich bin ja selber nur ein Drop-out mit Diplom von der University of Life.
Aber die Art, wie sich das Land, in dem ich lebe, mit Volldampf in Richtung Vergangenheit aufmacht, ist mir schon nicht mehr egal.
Und was hier passiert, hat generell die Tendenz, sich auf den Kontinent fortzupflanzen...