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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

13. 10. 2010 - 18:10

Phantomschmerzen.

Warum Österreich seine Politik entlang eines virtuellen Problems gestaltet und wie das die Demokratie zum Kippen bringen wird.

Dieser Text stellt die Ausgangs-Basis der Bonustrack-Sendung am 13.10. dar, der FM4-Mitternachtseinlage am Mittwoch. So ist das jetzt, nach der Sommerpause.

Thema diesmal sind Folgerungen aus den Wahlen in Wien und der Steiermark.

Und das die Kurzversion für Dummies:
Der schlaue Misik sagt: he, voll blöd von VP und SP, dass sie das Sparbudget nicht in die Wahlkämpfe in Wien und Steiermark reingenommen hat. So war's wieder nur Ausländer-Ausländer-Ausländer. Und wem nützt das? Dem HC-Männchen, eben.

Ich sage: ist vor allem deshalb doof, weil es da eigentlich keine zwei Meinungen dazu geben kann. Alle, die sich auskennen, wissen: Zuwanderung ist bitter dringend nötig; es geht nur um das Wie, die Gestaltung (und auch da sind sich eigentlich alle einig wie's geht). Dass HC-Man und Co so tun, als wäre "Ausländer raus!" überhaupt eine Option - ein Schmäh, nicht mehr.

Die Deutschen wissen das, die diskutieren das gerade (Sarrazin und so) heftig - aber die sind so schlau, das nicht in Wahlen mit rein zu nehmen. Und zwar alle: Parteien, Experten, Normalos. Man hat dort aus der grausamen Geschichte gelernt, was passiert, wenn man jemanden aus machtpolitischen Gründen zum Sündenbock macht: Massenmord und Ekelsystem.

Warum die das wissen? Weil sie nach dem Nazi-Terror aufgeklärt wurden, einen Crash-Kurs in Demokratie bekommen haben; und weil es eine Zivilgesellschaft gibt, also denkende Bürger und seriöse Medien.

Warum das bei uns nicht klappt? Weil das alles in Österreich, dem ersten Opfer (haha, Welt-Schmäh!) eben nicht passiert ist. Nicht aus der Geschichte lernen, keine Aufarbeitung, keine Rückholungen der Vertriebenen, keine Schuld, Scham oder Reue empfunden zu haben - das ist der Nährboden für niedere Instinkte, Niedertracht und Häme, für den Herrn Karl eben.

Und weil eine politische Bewegung seit Jahrzehnten außerhalb des Gentlemen's Agreement steht, sich den Sündenbock-Schmäh zu verkneifen, ist es so, wie es ist. Ein billiger Schmäh, alles am "Ausländer" abzuladen, ein hochgepitchtes Problem, nix wie Phantomschmerzen, die man sich selber macht.

Weil der alte Nährboden noch da ist, und die selbsternannten Volksempfinder sich auch deklassiert fühlen, sozial abgehängt, von den Medien (nicht einmal der Krone) längst nimmer repräsentiert, lassen sie sich so leicht und schnell abholen.
Sind an echten Problemen nicht interessiert - es reicht, wenn sie sich den Frust gegen die Sündenböcke von der Seele brüllen.

Die Folge: politisches Bewusstsein und Verantwortung outsourcen, an den, der für die "Sicherheit" zuständig sein mag, die Security eben, die aufpasst und uns weiter mit Infos von der Front (Angst! Umvolkung! Verdrängungswettbewerb!) versorgt, und daraus ein Mandat zieht.

Der urgute Trick dabei: "Sicherheit" ist genauso ein Schmäh, ein voll künstlicher Begriff, der nur über Gefühligkeit funktioniert, wie das beim "Ausländer" auch der Fall ist.

Das wird die Demokratie der Zukunft, jede Wette; totales Wegdrücken der gesellschaftspolitischen Verantwortung des Einzelnen zugunsten des Gefühls von "Sicherheit" - ein toller Tausch, nicht?
Denn die Alternative, einen Populismus, der nicht mit Angst und verdrängter Schuld und niederen Instinkten arbeitet, sondern mit positiven Gefühlen oder gar konstruktiver starker sozialer Aktivität - wo soll's denn das geben? Eben.

Der (und ich darf da Andreas Khol zitieren) "Staatspreisträger Robert Misik" hat in seinem Blog misik.at direkt nach der Wien-Wahl (auf seinem FS Misik-Kanal legt er dann argumentativ noch einmal nach) fast unbemerkt einen Aspekt angesprochen, der das Resultat befördert, ja erst (mit)ermöglicht hat.
Nämlich: die absurd gemeinsame "Taktik" von SP/VP, die (womöglich grausame) Budgeterstellung zeitlich nach hinten zu rücken und so aus den Wahlkämpfen (Steiermark, Wien) rauszuhalten, ist brutal in die Hose gegangen. Denn, allemal, es wären die Haushaltssanierung und Wirtschafts-Themen im Mittelpunkt gestanden - so war es nur, wieder einmal, die hochgekochte Ausländerfrage. Und die ist ein automatischer Stimmen-Maximierer für die populistischen Abgreifer.

Das wichtigste Wort im ersten Absatz ist übrigens "unbemerkt". Das hat weniger etwas mit einer Analyse-Allergie zu tun, als mit einer Kaninchen & Schlange-Schockstarre. Vor der Macht der Straße, die das Integrations-Thema nach sich zieht und direkt in die Arme der Rechtspopulisten treibt.

Es ist ja keineswegs das erste Mal passiert, dass sich politische Mitbewerber den Themenblock Integration/Zuwanderung/Migration als Haupt-Thema aufs Auge drücken haben lassen. Im klaren Wissen darüber, dass dieser Aufreger ausschließlich den Aufwühlern nützt, die sich auch deshalb so fesch mit ihren einfachen Antworten positionieren können, weil sie wissen, dass sie den Unsinn nicht in der Praxis umsetzen müssen.

Denn: das "Ausländer"-Thema ist ein rein virtuelles.

Ein Phantomschmerz der Gesellschaft.

Jeder Wirtschaftsexperte, egal welcher Weltanschauung, wird die Notwendigkeit der Eingliederung von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt, jeder Demograf analoges zur Bevölkerungs-Entwicklung erklären können, die Bildungs-Fachmenschen sind sich über Lösungsansätze letztlich recht einig und auch die Selbstdefinition als Einwanderungsland ist in den Sprachgebrauch eingegangen.

Im gesamten Themen-Komplex steht Österreich deutlich besser da als etwa sein großer Nachbar Deutschland.

Nur politisch äußert sich das völlig konträr.

In Deutschland ziehen die ins Schuldzuweisungs-Horn stoßenden Sarrazin-Thesen eine politische Debatte nach sich, die zwar auch ihre Untiefen hat, aber das Wesentliche erkennt: dass nämlich die "Ausländer"-Diskussion, die Integrations-Debatte kein Thema ist, um damit Wählerstimmen abzucashen, sondern das gemeinsame Problem aller.
Weshalb die Debatte dann fast gar keine Auswirkungen auf Wahlen oder Umfragen hat. Da ist aktuell die Demokratie-Diskussion anhand der Stuttgart 21-Krise wichtiger.
Ja, das zeugt von einer gewissen politischen Reife - der Parteien, aber auch der Zivilgesellschaft.

In Österreich funktioniert dieses Übereinkommen nicht.

Das Gentlemen's Agreement, populistische Sündenbock-Politik nicht zu machen, wurde seit dem Haider-Putsch innerhalb der FPÖ (die sich davor streng daran gehalten hatte) gebrochen. Und dieser Dammbruch definiert heute noch jegliche politische Auseinandersetzung, lähmt seit über drei Jahrzehnten tatsächliches politisches Fortkommen.

Also: alle Beteiligten wissen, dass die ungefähr 50. Migrationswelle, die Österreich in den letzten paar hundert Jahren überzogen hat, genauso bewältigt werden wird wie die 49 davor. Weil sie Normalität ist. Alle Beteiligten wissen um die Notwendigkeit von Zuwanderung und haben auch die Kenntnis, wie man sie besser kanalisieren kann.

Trotzdem spielen einige Player (und nicht nur das 3. Lager, sondern auch einige Flügel der beiden Groß-Parteien) die Sündenbock-Karte aus.
Weil sie wissen, dass das auf fruchtbaren Boden fällt.

Denn auch hier gibt es einen zentralen Unterschied zwischen Deutschland und Österreich. In Deutschland hat die von den Alliierten (vor allem den USA und dem UK) forcierte Entnazifizierung flächendeckend stattgefunden. Und Resultate gezeitigt, Teilerfolge gebracht. Dazu kamen halbwegs funktionierende Versuche die vertriebene Intelligenz des Landes zurückzuholen.

In Österreich ist all das nicht passiert.

Die Selbststilisierung als "erstes Opfer" des Nazi-Terrors hat gegriffen, die Alliierten sind drauf reingefallen und haben dem schmierigen Gesüßel der Herr Karl-Generation geglaubt.
Keine Entnazifizierung, kein Unterrricht in angewandter Demokratie, deshalb auch keine Rückholung der Intelligenz, was das Bürgertum, die Zivilgesellschaft, die Wien/Österreich noch vor 100 Jahren zu einer der Welthauptstädte von Forschung/Wissenschaft/Diskurs führte, nachhaltig beschädigt und mittlerweile zerstört hat.

Es gibt hierzulande also nicht nur kein Korrektiv oder Kontroll-Mechanimus einer funktionierenden Zivilgesellschaft - auch weil die entsprechende Medienlandschaft fehlt - sondern auch kein gesellschaftliches Bewusstsein dafür, dass der historisch verheerende Fehler der Verführbarkeit über den Sündenbock-Trick eine No-Go-Area ist.
Der Ausreden-Verweis auf Ungarn, Holländer und andere protorassistische Fraktionen ist nicht gestattet, weil dort die kollektive Erfahrung, wohin derlei führt, fehlt.

Österreich, das Täterland, einer der Horte des Nationalsozialismus, hat die Erfahrung. Bloß: Wer die nicht aufarbeitet, ist dazu verdammt, denselben Fehler noch einmal zu machen.

Im Vakuum der gesellschaftspolitischen Bewusstlosigkeit...

... stoßen die Instrumentalisierer des "Ausländer"-Themas rein. Sie arbeiten mit den niederen Instinkten, die uns alle innewohnen, mit Niedertracht und Häme, mit Angst vor dem "Anderen" und "Fremden". Sie können das, weil in Österreich die historische Chance auf die Verarbeitung verpasst wurde, weil sich die 2. Republik die Verdrängung der hausgemachten Verbrechen, des Genozids und der Spitzel-Gesellschaft leitmotivisch auf die Fahnen geheftet hat.

Deswegen sind die Rechtspopulisten auch keine Hetzer, wie es das Profil annimmt, sondern nur ganz simple Verstärker und Gebraucher.
Sie sammeln nicht nur die neuen Herrn Karls, die ihrer Niedertracht und Häme freien Lauf lassen können, weil es ihre niemals hinterfragte Privat-Tradition erlaubt, sondern auch die sozial Deklassierten, die sich nicht anders auszudrücken wissen und froh sind, ihren Frust ganz einfach kanalisieren zu können.

Weshalb dieser Koalition der Sprachlosen, Denkfaulen und niemals mit den grundsätzlichen Überlegungen von Demokratie und Menschlichkeit Konfrontierten, also den sozial Verkümmerten aller Art dann ein virtuelles Problem, eine künstlich aufgeblasene Geschichte, völlig ausreicht, um sich Luft zu machen.

Ein einziger "Dagegen!" und "Eh klar, wer schuld ist!"-Rülpser befreit sie vom auf ihnen lastenden Druck; der im Übrigen ein reiner Luxus-Druck ist - von einer wirklich massiven Wirtschaftskrise war nichts zu spüren, selbst die heimische Unterklasse steht im globalen Vergleich mehr als gut da (die, die wirklicher Armut anheimgefallen und durch die sozialen Netze gerutscht sind, sind keinesfalls der Core-Bereich der Populisten, das ist vor allem die sich als "gefährdet" erachtende untere Mittelschicht, die jungen Männer vorneweg). Der Druck entsteht in Wahrheit aus einem kollektiven Schuldbewusstsein, dass sich, ganz wie von selbst, in gegenläufigen Ausbrüchen äußert.

Man leidet also an einem Phantomschmerz.

Wo die ökonomischen Probleme wirklich herkommen, interessiert angesichts des bequemen Outsourcens der Schuldfrage (... das erledigt mein Politiker für mich!) niemanden.

Und genau hier hat sich Österreichs Zukunft auch bereits entschieden.
Da die Underclass und auch die untere Mittelschicht medial nicht mehr ernsthaft erreichbar sind (selbst der Boulevard kann keine politische Agenda mehr setzen) und klassische politische Strukturen mittlerweile ebenso zerstört sind wie die Zivilgesellschaft, nimmt das Outsourcing von politischen Prozessen bald realistische Züge an.
Die, die von Sicherheit sprechen und darunter auch das Rauskicken von Sündenböcken verstehen (zu denen neben den Fremden auch die "G'studierten", die "Besseren" gehören) werden sich so eine Carte Blanche holen, und sich dann an die Machtpolitik machen. Solange sie mit dem Sicherheits-Aspekt argumentieren, werden sie das Mandat bekommen; auch die "Sicherheit" ist nämlich rein virtuell, existiert nur in der Gefühligkeit und ist jederzeit ausdehnbar.

Dieser Text ist die Ausgangs-Basis der Bonustrack-Sendung vom 13.10., der FM4-Mitternachtseinlage am Mittwoch.

Phone-In Möglichkeit unter 0800- 226 996; von außerhalb Österreichs unter 43-1-503 63 18.
Lines open ab Mitternacht, wie immer erst nach der Kurzversion für Dummies.

Die Musik zum Thema kommt von Dan Le Sac vs. Scroobius Pip und heißt "Thou Shalt always Kill", hier in Version 1, hier in Version 2 featuring Posdnous von De La Soul.

Das wiederum führt unweigerlich zu einer neuen Ausprägung dessen, was wir noch unter Demokratie verstehen - einer Security-Demokratie, die ihre Existenz aus dem Phantomschmerz der subjektiven Befindlichkeit heraus legitimiert. Das wird, in absehbarer Zeit, für satte Mehrheiten völlig genügen.
Und damit das, was für die wenigen Literaten in unserer Mediengesellschaft aktuell so unverständlich und unnachvollziehbar ist, nämlich die gesellschaftpolitische Sprachlosigkeit der sozial Abgehängten, der Verachteten, der Verkümmerten, zur Maxime erheben; und die politische Macht an jene ausliefern, die dieses diffuse Gefühl am besten (und am einfachsten) ansprechen.

Dass gegen diesen rein machtpolitisch angelegten Populismus der puren Instrumentalisierung von Verzweiflung, Angst, Nichtwissen und Nichtsgelernthaben nur ein wahrhaftiger Populismus der positiv besetzten Gefühle helfen kann, liegt auf der Hand.
Bloß: wer soll das denn leisten können?