Erstellt am: 12. 10. 2010 - 18:15 Uhr
Viennale 2010
Viennale
Mein Puls beschleunigt sich jedes Jahr, wenn ich zum ersten Mal das komplette Viennale-Programm durchblättern kann. Von den diversen Tributes (Larry Cohen), Specials und Retrospektiven (Eric Rohmer im Filmmuseum) hat man vielleicht schon gehört, aber der größte Brocken des Filmfestivals bleibt bis zur offiziellen Pressekonferenz kurz vor Beginn des Vorverkaufs mehr oder weniger geheim.
Hans Hurch, dem langjährigen Direktor von Österreichs größtem Filmfestival, wird ja vieles nachgesagt, Populismus in der Programmierung kann man ihm aber nicht vorwerfen. Das hat sich nach Durchsicht der 2010er Ernte nicht geändert. Das teure amerikanische Starkino bleibt auch heuer ausgesperrt aus den innerstädtischen Orten Gartenbaukino, Stadtkino, Filmmuseum, Künstlerhaus, Urania und Metro. Dafür würde es heuer nicht schaden, noch schnell Spanisch zu lernen, sind doch überproportional viele Spiel- und Dokumentarfilme aus dem südamerikanischen Raum, speziell Argentinien, im Programm zu sehen.
"... vielleicht eines der schönsten und dringlichsten Werke der Filmgeschichte."
Ich liebe die schwurbelige Prosa der Filmkurzbeschreibungen im Pocketguide, deren Pathos einerseits ständig die ganz große Leidenschaft für das Kino behauptet, in seiner Gänze gelesen aber auch merkwürdig unbeeinflusst von den aktuellen Krisenerscheinungen des Kinos scheint. Wenn hier ständig "fremde Meteoriten im Kino unserer Tage", "leuchtende Juwelen" und "kleine Wunderk" ausgerufen werden, könnte man fast vergessen, dass das Kino als Ort kollektiver Cinephilie immer mehr in Richtung Nische wandert. Die Viennale öffnet als störrischer Dinosaurier für ihre zwei Wochen Laufzeit ein Kino, das mittlerweile sowohl Utopie als auch nostalgische Sehnsucht nach "dem Kino", einer Kunstform des 20. Jahrhunderts, bedeuten kann. Für Leute, die nicht die Möglichkeit haben, pro Jahr vier, fünf internationale Filmfestivals abzuklappern, ist die Viennale jedenfalls nachwievor unverzichtbar, um Filme zu sehen, die es hierzulande immer seltener in den regulären Kinobetrieb schaffen.
Hier kommen die Filme, die ich mir (ungesehenerweise) rot angestrichen habe.
Crowdpleaser
Für diese Filme sollte man sich rechtzeitig Karten sichern. Die kommen sicher gut an (und wahrscheinlich auch ins reguläre Kinoprogramm): Machete, die ausgesprochen blutige Grindhousehommage von Robert Rodriguez, verspricht herben Bubencharme. Street-Art Superstar Banksy verwischt mit seinem ersten Film "Exit Through The Gift Shop" seine eigene Identität und stellt das Autorenprinzip in Frage. Ob das so gut wird, wie der Simpsons Vorspann, den er gestalten durfte? Mockumentary muss man wohl auch den Film "I'm Still Here" von Casey Affleck nennen. Darin will Joaquin Phoenix Hip Hop Star werden, und die Kamera begleitet ihn ein Jahr lang auf diesem Weg. Alles nur ein Witz, wissen wir mittlerweile. Der Film läuft in der Viennale trotzdem in der Dokuschiene.
Noch ein Film mit Bart: Vincent Gallo verkörpert in "Essential Killing" von Jerzy Skolimowski einen muslimischen Kämpfer, der durch polnische Wälder streift. Klingt bizarr, von Vincent Gallos Rollenauswahl haben wir uns auch nichts anderes erwartet.
Sophia Coppolas neuer Film "Somewhere" mit Stephen Dorff als Filmstar und Elle Fanning (ja, die Schwester von Dakota) als Filmstar-Tochter, die sich in einem Hotel in L.A. die Zeit vertrieben, klingt für mich sehr nach feuchtem Hipster-Traum. Wird aber sicher "schön".
Auch schön, dass das gute alte Genre Kifferkomödie auf der Viennale seinen Platz findet. "High School" von John Stahlberg legt die Betonung auf "high", und das laut Programmtext mit "atemberaubender Respektlosigkeit". Adrien "ausdrucksstarke Augenbraue" Brody im Trailer ist jedenfalls sensationell.
Amerikanische Außenseiter
Das amerikanische Kino ist auf der heurigen Viennale vor allem mit Außenseitern präsent, einerseits im Sinne der Protagonisten, andererseits im Sinne der Regisseure. Harmony Korine steht seit seinem Durchbruch mit dem Drehbuch zu Larry Clarks "Kids", trotz Hipster-Status, völlig außerhalb der (Indie)Filmindustrie. Furchtlos begibt er sich mit seinen trashigen Lo-Fi Filmen in die Hölle der verarmten Suburbs Amerikas. Seine "Trash Humpers" sind eine Art Hardcore "Jack Ass" und reichlich verstörend. Den Trailer kann man bei YouTube jedenfalls nur nach Alters-Check begutachten. Im Kino wird man das nicht mehr so schnell zu sehen bekommen.
promo
Michelle, ma belle, komm doch als Gast zur Viennale!
Die Queen des avancierten US-Indie Kinos ist ohne Zweifel Michelle Williams, die gleich mit zwei Filmen vertreten ist . Der ehemalige Star von Dawson's Creek ist einerseits im neuen Film der "Wendy und Lucy" Regisseurin Kelly Reichhardt zu sehe. "Meek's Cutoff" ist ein historischer Film über amerikanische Siedler im 19. Jahrhundert, inhaltliches Neuland für Kelly Reichardt, die bislang für Gegenwärtiges an den amerikanischen Rändern der Gesellschaft bekannt war.
Der zweite Film mit der großartigen Michelle Williams bringt sie mit Ryan Gosling zusammen, auch so einer dieser Hollywood Menschen, die ein Händchen für interessante Off-Filme haben. "Blue Valentine" von Derek Cianfrance ist eine Liebesgeschichte, angesiedelt im ländlichen Pennsylvania und enthält, wenn man den YouTube Comments glaubt, "intense and graphic sex scenes". Also in Amerika wird sowas als PG17 eingestuft.
Mit zwei Großmeistern des 90er Jahr Indie-Kinos, die hierzulande völlig aus dem Fokus geraten sind, gibt es ein Wiedersehen. Gregg Araki, Spezialist für grelle queere Teenagerfilme, nicht immer auf der sicheren Seite des guten Geschmacks, versucht mit "Kaboom" , dem High School Film neue Seiten abzugewinnen. Kann furchtbar werden, aber auch toll. Sein vorletzter Streifen "Mysterious Skin" war jedenfalls einer meiner "Lieblings-nie-im-Kino-angelaufenen-Filme".
Todd Solondzs "Fortsetzung" zu seinem reichlich umstrittenen "Happiness" kommt auch noch unverhofft zum Kinoeinsatz. Filme, die wie Songs von den Talking Heads heißen, können eigentlich nicht schlecht sein. "Life During Wartime" dürfte jedenfalls wieder ein echtes Feel-Bad-Movie sein. Weltweit ist er zwar durchgefallen, aber das muss ja nicht viel heißen. In Sachen "unangenehme" Szenen aus der amerikanischen Hölle namens Familie, kann Todd Solondz niemand das Wasser reichen. Quirky.
Die Viennale-Leitung hat an Andy Warhols Factory Personal der 60er Jahre offenbar einen Narren gefressen. Wie sonst ist es zu erklären, dass jedes Jahr ein neues Puzzleteil, eine neue Dokumentation, ein neuer Stargast kommt, der uns in das New York der Pop-Art mitnimmt. Heuer ist es Lou Reed, der diesmal ausdrücklich nicht als Musiker gewürdigt wird, sondern als Filmemacher. Mir wäre ein neues Album von Reed ja lieber gewesen, aber so kommt immerhin jemand in die Stadt, der zu Recht sehr berühmt ist, und vermutlich die Gästebetreuer der Viennale in den Wahnsinn treiben wird. Interessanter als die Reed'sche Familientherapie erscheint mir die Dokumentation über Candy Darling, Warhol Superstar, Transgender, Krebsopfer und Covermodel für eine Platte von Antony and the Johnsons.
Französische und andere Klassiker
Es war nicht anders zu erwarten. Hans Hurch würdigt auch heuer wieder den einen oder anderen Säulenheiligen seines Kinoverständnisses. Neues von und über (stein)alte Großmeister wie Jean Luc Godard, Manuel Oliviera, Straub/Huillet oder Woody Allen sollte alle zufriedenstellen, die das europäische (Post)Nouvelle Vague Kino der 60er und 70er Jahre noch immer für zeitgemäß halten. Immerhin schon zwei Generationen jünger ist Francois Ozon, dessen Filme der letzten Jahre zwischen sensiblem Pastiche und postmoderner Beliebigkeit pendeln. Sein neuester Streich "Potiche" soll laut Augenzeugen in seiner Hysterie durchaus an die französischen Klamauk-Großtaten von Louis de Funès anschließen. Und Catherine Deneuve muss im Trainingsanzug joggen.
Ein weiterer Viennale-Stammgast der letzten gefühlten einhundert Jahre Viennale ist Olivier Assayas. Er ist diesmal mit "Carlos" vertreten, einem Biopic über den berüchtigten Terroristen aus den Zeiten des Kalten Krieges und des Nahostkonflikts.
Ich bin auch schon gespannt auf Catherine Breillats "La Belle Endormie". Seit ihrem Arthouse-Feminist-Porno-Schocker "Romance" hat es kaum einer ihrer Film in die heimischen Kinos geschafft. In dieser freien Version des Märchens Dornröschen erzählt sie von den Schrecken des Kindseins und Erwachsenwerdens. Eine Empfehlung für alle, denen Tim Burtons Alice im Wunderland zu CGI lastig war.
Kino aus Asien
Mein Lieblingstrailer zu den diversen Viennale-Filmen kommt aus Japan und stammt von Matsumoto Hitoshis Film "Shinboru" (Symbol). Soll was mit Mexican Wrestling zu tun haben. Das erklärt aber noch lange nicht den bizarren Pyjama des Hauptdarstellers.
Der in Cannes preisgekrönte Rästelfilm des thailändischen Rätselfilmmeisters Apichatpong "John" Weerasethakul mit dem langen Titel, den ich hier auf "Uncle Boonmee" verkürzen möchte, führt uns in einen magischen Dschungel. Der Regisseur wird persönlich anwesend sein, und jeder, der den Ausnahmefilmemacher schon einmal bei einem Q&A erlebt hat, weiß, dass alleine diese Erfahrung ein Kinoticket rechtfertigt. Auch interessant ist der diesjährige Locarno-Gewinner "Han Jia" (Winter Vacation) von Li Hongqi, ein Slackerfilm, der so schön mit "smells like teen spirit in Nordchina" beschrieben wird.
Radikaler klingt noch "Caterpillar" vom japanischen Regisseur Wakamatsu Koji, der schon seit der heurigen Berlinale auf meiner Must-See Liste steht. Transgressives Kino über einen Kriegsversehrten, der 1940 bein- und armamputiert in eine sadomasochistische Liebe verstrickt wird.
Dokumentarisches
Die zahlreichen Dokumentarfilme der Viennale lesen sich im Katalog erfahrungsgemäß interessant, bleiben ästhetisch aber manchmal im Rahmen des auf einem TV-Sender Möglichen angesiedelt. Viel über den ökonomischen Stand des Dokumentarkinos verrät auch der Umstand, dass die meisten Filme auf Video gedreht und abgespielt werden. Thematisch steht bei Hurchs Programmierung das Politische im Vordergrund. Einige der Themen des heurigen Programms: Dubai, Wanderzirkus, Basquiat, moderne Seefahrt, Affen. Für Fans der gepflegten Rockumentary gibt es Filme über gut abgehangene Legenden wie Leonard Cohen, Phil Spector, William S. Burroughs, die White Stripes oder die Rolling Stones. Musikalisch gesehen war die Viennale immer schon mehr "Mojo" als "De:Bug".
Festivalzentrum Badeschiff
Das Festivalzentrum befindet sich wieder am Badeschiff am Donaukanal unterhalb der Urania, dort werden die Panels und Diskussionen durchgeführt, Partys gefeiert und über das Gesehene diskutiert. Super, dass auch die A Thousand Fuegos am 22. Oktober dort live spielen werden, im Rahmen eines von FM4 gehosteten Abends, der sich um Phil Spector und das Prinzip "Wall of Sound" dreht. Auch im Schiff zuhause sind Gäste wie Thomas Meinecke, Radian, Gelitin, John Turturro, Juan MacLean und diverse FilmemacherInnen an den Plattentellern. Schlafen können wir, wenn wir tot sind.
Der Rest
Das ist alles nur ein ganz schmaler, subjektiver Ausschnitt aus dem umfangreichen Festivalprogramm. Es fehlen da natürlich die Retros und Specials, Kurzfilme und noch viel mehr. Auf FM4 folgt in den nächsten Wochen noch eine weit detailliertere Berichterstattung und Markus Keuschnigg wird natürlich sein Viennale-Tagebuch schreiben.
Wer weitere (Geheim)tipps und Wunschfilme im Programm findet, soll sie doch bitte im Forum posten.