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Burstup

Physische Welt, virtuelle Realität. Politik und Kultur.

9. 10. 2010 - 12:24

Stuttgart 21

Vor einer Woche wurden bei einer Demonstration gegen das Bauprojekt "Stuttgart 21" mehrere hundert Menschen verletzt. An diesem Wochenende wird mit der bisher größten Demo gerechnet.

Ein 60-jähriger Mann, der aus den Augen blutet. Hautfetzen hängen von seinem Gesicht. Das schockierende Foto ist letzte Woche um die Welt gegangen. Vorgestern erfuhren wir neue Details: Ein Augenboden des Mannes ist gebrochen, beide Netzhäute und Augenlinsen sind beschädigt - der 66 Jahre alte Mann bleibt vielleicht für immer blind. Ein weiterer, 22-jähriger Demonstrant ist ebenfalls erblindet. Beide Männer wurden von einem Wasserwerfer im Gesicht getroffen.

PRO

7.000 Arbeitsplätze bei Baufirmen, 10.000 Stellen durch den besseren Anschluss der Region. Der Durchgangsbahnhof verbindet Stuttgart schneller mit Städten wie Ulm oder München und mit dem Flughafen. Weil der Bahnhof unter der Erde liegt, entsteht ein 100 Hektar großes neues Stadtviertel. Die neue Station sieht ein Null-Energie-Konzept vor: Durch große Bullaugen in der Decke fällt Tageslicht auf die Gleise, für frische Luft sorgt der Strom, der durch ein- und ausfahrende Züge erzeugt wird. Die Bahnsteige werden durch barrierefreie Wege miteinander verbunden. Wenn die Züge unter der Erde rollen, herrscht oben weniger Lärm – auch im Schlossgarten, der sogar um 20 Hektar größer wird.

Demonstrant mit blutenden Augen, stuttgart

dpa/Marjan Murat

Landesregierung und Polizei behaupten, die Wasserwerfer wären nur breitflächig eingesetzt worden. Aber auf mehreren Videos ist zu sehen: Das Wasser wurde aus kürzester Entfernung direkt auf Demonstranten gestrahlt - ältere Menschen wie auch Jugendliche. Eine entsetzte, völlig durchnässte Pensionistin: "Das ist so unerhört! Wie im Krieg. Oder, wie wenn man DDR-Besuche gemacht hat früher." Eine andere, ebenfalls ältere Frau: "Wo sind wir denn? Sind wir im Iran? Ich dachte, wir leben in einem Rechtsstaat."

Ein Rechtsstaat, auf den sich freilich beide Seiten berufen. Der deutsche Innenminister Heribert Rech von der CDU verteidigte den Polizei-Einsatz vorige Woche: "Wir leben in einem Rechtsstaat. Die Bahn als Bauträger hat ein Baurecht. Und es ist Aufgabe der Polizei, dass dieses Recht auch ausgeübt werden kann."

CONTRA

Statt 6,5 Milliarden wird das Projekt 10 Milliarden Euro kosten. Kürzere Fahrtzeiten gibt es nur in Richtung München. Im Durchgangsbahnhof Stuttgart 21 können die Züge nicht mehr aufeinander warten, denn um das Verkehrsaufkommen mit nur acht Gleisen zu bewältigen, sind für den Halt nur ein bis zwei Minuten Zeit eingeplant. Die Folge: längere Reisezeiten, teurere Tickets, umständliches Umsteigen, zu wenige Verbindungen. Teile des denkmalgeschützten Bahnhofs werden abgerissen. Weil Stuttgart 21 so teuer ist, werden andere Bauvorhaben wie die Rheintalbahn nicht realisiert. Der Güterverkehr wird weiter auf die Straße verlagert. Stuttgart 21 wird erst 2025 fertig, solange leiden die Bürger an der „größten Baustelle Europas".

Während die Polizei von 130 verletzten Demonstranten in dem öffentlichen Park spricht, geben die Veranstalter über 400 Verletzte an. Der Stuttgarter Polizeichef Sigfried Stumpf, rechtfertigte den Einsatz von Wasserwerfern und Reizgas durch hunderte Polizisten mit angeblichen Angriffen der Demonstranten auf die Polizei. "Der Einsatz gefällt auch uns nicht", so Stumpf. "Uns und mir tut es leid, dass das so gelaufen ist. Uns schmerzt das auch."

Eine Entschuldigung, die nicht genügte, um die Gemüter zu beruhigen. Den Demonstrationen schließen sich mittlerweile auch Menschen an, denen das Ziel der ursprünglichen Protestbewegung gar kein Anliegen ist, die aber entsetzt von Repression und Polizeigewalt sind. Sie tragen Buttons und Shirts "gegen S21", obwohl ihnen das Bauprojekt eigentlich egal ist.

protestierende mit transparent gegen stuttgart 21

dpa/uwe anspach

Politisch heikel ist die Eskalation vor allem für Stefan Mappus, Ministerpräsident von Baden-Württemberg. In einem halben Jahr wird in dem deutschen Bundesland gewählt. Mappus machte Mitte dieser Woche ein erstes Zugeständnis: Im Park sollen bis Frühling keine weiteren Bäume gefällt werden, der Südteil des alten Bahnhofs wird vorläufig nicht abgerissen. Ein Baustopp ist das aber nicht. Gespräche macht der Ministerpräsident davon abhängig, dass die Protestbewegung nicht grundsätzlich Nein zum Milliardenprojekt S21 sagt. Stefan Mappus: "Wir brauchen keine Demonstrationen. Wir brauchen Gespräche über die Frage, wie wir den Konflikt um Stuttgart 21 lösen können. Dazu stehe ich und das möchte ich. Und ich hoffe, dass in den nächsten Tagen bei der Mehrheit der Demonstranten die Vernunft zu diesen Gesprächen einkehrt und dass wir dann den Konflikt lösen können."

On Air
Christoph Weiss berichtet heute Nachmittag über die Proteste gegen Stuttgart 21. Zu hören in FM4 Connected (13-17)

Die Vernunft beanspruchen beiden Seiten für sich. Die Befürworter von Stuttgart 21 weisen auf schnellere Fernverbindungen hin, die Gegner kritisieren Einschnitte im lokalen Zugverkehr. Die Befürworter freuen sich auf 10.000 neue Arbeitsplätze, die Gegner befürchten 10 Milliarden statt der bisher kolportierten 6,5 Milliarden Euro Kosten. Die Befürworter schwärmen von 20 Hektar mehr Grünfläche in Stuttgart, weil der neue Bahnhof unterirdisch sein wird. Die Gegner kritisieren, dass diese Grünflächen erst nach 15jähriger Bauzeit existieren werden. Die Fronten sind verhärtet. Bei der heutigen Großdemonstration wird mit bis zu 100.000 Protestierenden gerechnet.

Update: Bei der Demo waren laut Polizei 55.000 Protestierende, laut Veranstaltern 90.000 bis 100.000.