Erstellt am: 3. 10. 2010 - 08:00 Uhr
Naturtrüb in Los Angeles
Um 1970, Los Angeles. Eine Stadt wie ein Trip, wenn es nach Thomas Pynchon und seiner Hauptfigur geht, dem Hippie-Detektiv Larry „Doc“ Sportello. Anhaltspunkte, Spuren , Verdachtsmomente, Verschwörungen. All das kennt man aus den grandiosen und teils grandios aus dem Ruder laufenden, als Romane getarnten, gleichzeitig als Weltdeutungen und Gegenweltschöpfungen fungierenden Fiktionen des Amerikaners, von Die Enden der Parabel bis zu seinem letzten, ausladenden Anschlag auf die Ödnis der Gegenwart namens Gegen den Tag.
Rowohlt
Pulp Fiction, auch im Ton
Diesmal aber bleibt Pynchon ungewöhnlich nah dran am Krimigenre und an einer Figur, die er in von einer Begegnung, von einem Dialog in den nächsten hetzt. Der Hippie-Detektiv Larry „Doc“ Sportello ist auf der Suche nach der Wahrheit. Pulp Fiction, auch im Ton. Sahneschnitten, Bullen, scheiß´ drauf. Ja, es gibt auch einen Fall, eine Entführung eines Immobilienhais, der angeblich zum Acidfreak wurde und nun an all die Spinner und Penner Wohnraum verschenken will. Die Polizei hängt mit drin und das organisierte Verbrechen auch. Oder ist die Polizei das organisierte Verbrechen? Der Dialog der Hippiewelt mit der Ordnungsmacht verspricht jedenfalls nicht allzu viel: „Kann ich mal was sagen? Hört irgendwer zu? Alle. Keiner. Spielt das eine Rolle?“
Und weiter im Auto, vom Strand in die Illusionsmaschine Las Vegas, wo angepisste Unterweltbosse von „gewerkschaftlich organisierten Schauspielern, die komische Mafiosis spielen und so tun, als pusten sie einander weg“ reden und verwirrte marxistische Ökonomen im Lokalfernsehe komische Fragen stellen: „Können Sie mir bitte sagen, wo die Wirklichkeit ist?“
Kurz vor dem Ende macht eine Begegnung mit einem geheimnisvollen, mächtiger Drahtzieher des Großkapitals klar, dass ein paar bunte Pillen zwar die Wahrnehmung, aber nicht unbedingt den Rest verändern: „Immobilien, Wasserrechte, Öl, billige Arbeitskräfte – das gehört alles uns, und das hat uns immer schon gehört. (...) Wir sind schon viel schlimmer belagert worden, und wir sind immer noch da.“
Böse Counter Culture
Davor hat der Pubertierende im Manne namens Pynchon aber mit der Schilderung der kalifornischen Counter Culture jede Menge Spaß. Bösen Spaß, natürlich. Der Doc trägt zum Beispiel eine Pistole unter den Hippie-Hosen, bastelt sich aus weißen T-Shirts-Streifen einen halbmeterhohe weißen Afro und wünscht sich für scharfen Sex mit einer Staatsanwältin eine Perücke im Stil der Charles Manson-Gespielinnen, weil fragen wird man ja noch dürfen. Ein zynischer Polizist ist stolz auf seine 50 Kilo schwere Stacheldrahtsammlung. Am Strand tummeln sich Surf-Nazis und Cyborg-Prototypen. Im Gefängnis schließen schwarze Gangs Zweckbündnisse mit Faschistengruppen wie der Arischen Bruderschaft. In stockdunklen Restaurants leuchten erste Fitnessgläubige mit Taschenlampen ihre Salatberge aus. Der Sänger einer britische Band namens Spotted Dick lässt sich nach einem Pilzmenü der Sonderklasse auf Asymetric Bob umtaufen, weil er zwei unterschiedliche Gesichtshälften mit jeweils unterschiedlichen Persönlichkeiten zu besitzen glaubt, während eine kalifornische Surfband namens Boards aus Protest gegen den Schuhzwang in einem Hippie-Restaurant sich Sandalenriemen auf die Füße tätowieren lassen. Und dazu spielen dann auch noch die echten Byrds Eight Miles High.
Scheißmirnix kollidiert mit Law and Order
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Der Nebel wabert immer wieder über diese gefräßige Stadt des vernebelten Bewusstseins. Es geht, nicht, wie sonst bei Pynchon, um die Verknüpfung von allem mit allem, sondern um die Rekonstruktion einer auch für den großen Enigmatiker persönlich wohl prägenden Ära: nämlich der der psychedelischen Kultur Amerikas. Deren Scheißmirnix-Mentalität kollidiert in Natürliche Mängel mit der Law and Order-Fraktion zwischen Präsident Nixon, CIA und FBI. Im Hintergrund lauern auch noch die Allgegenwart von Big Business, dieser Mafia hinter der Mafia, der Irrwitz von Fernsehen und Jukebox-Pop und die neue Macht der Vernetzung, wie sie im ARPAnet, dem Vorläufer des Internet angedeutet wird.
Am Ende, als der Fall gelöst und trotzdem nichts besser ist und man so trotz allem so viel gelacht hat wie selten bei Pynchon, da verschwimmt wieder alles am Freeway nach Nirgendwo. Amerika, das ist Nixons gefrorenes Lächeln und ein Gewebe aus Fluchtlinien zwischen psychedelischen Bananen und der Mordlust eines Charles Manson. Wahrheit, scheint uns Pynchon sagen zu wollen, gibt es nur als herrlich alberne und dann wieder scharfsichtige Fiktion über ihre Unmöglichkeit, als Projekt mit natürlichen Mängeln. So bleibt dem verhinderten Aufklärer Sportello im Fluss der roten Rücklichter nur ein Wunsch: „Dass es den Nebel wegbrannte und das stattdessen diesmal irgendetwas anderes da war.“ Er ist natürlich vergeblich.