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Simon Welebil

Abenteuer im Kopf, drinnen, draußen und im Netz

4. 10. 2010 - 16:16

Wenn Superhelden versagen

Alan Pauls arbeitet in seiner "Geschichte der Tränen" die jüngste argentinische Vergangenheit auf. Heldentaten gibt's darin keine, dafür umso mehr Schmerz und Verzweiflung.

Buchcover von Alan Pauls Geschichte der Tränen. Ein kleiner Junge posiert im Superheldenkostüm

Klett Cotta

"Geschichte der Tränen ist im Klett-Cotta Verlag in der Übersetzung von Christian Hansen erschienen

Ein Sprung im Superman-Kostüm durch die gläserne Balkontür. Der Roman "Geschichte der Tränen" des argentinischen Autors Alan Pauls setzt mit einem Knalleffekt ein. Der vierjährige namenlose Protagonist bleibt unverletzt. Er schreibt das seiner "Superkraft", seiner Empfindsamkeit zu, die in dem introvertierten Kind besonders ausgeprägt ist."Viel Reden ist seine Sache nicht." Das macht ihn zum perfekten Zuhörer von allen, die ihre Probleme und Sorgen loswerden wollen. Ungefragt ergießen sich Geständnisse und Lebensbeichten über ihn, sowohl von seiner Familie, als auch von Unbekannten.

„Schon im Alter von fünf oder sechs Jahren ist er der Vertraute. Anders als musikalische Wunderkinder, die ein absolutes Gehör haben, ist er ein absolutes Gehör. Er ist bestens trainiert. Ganz egal, wie die Sache läuft, wie der Prozess in Gang kommt, ob er einfach das nötige Talent besitzt, denjenigen zu erkennen, der darauf brennt, zu beichten, und ihm sodann sein Ohr leiht oder ob es die anderen sind, die Verzweifelten, Menschen, die verglühen oder explodieren, wenn sie nicht gleich reden, die in ihm das Ohr erkennen, dessen sie bedürfen, und sich wie Ertrinkende an ihn klammern.“

Argentinien ist heuer Gastland der Frankfurter Buchmesse.

Durch die Bekenntnisse gibt Alan Pauls einen Einblick in die argentinische Gesellschaft der 1960er und 70er Jahre. Die geschiedene Mutter des Protagonisten fühlt sich in der katholischen und patriarchalen Gesellschaft wertlos, sie ist ein lebender Zombie. Seine Großmutter wird von ihrem Mann, einem verbitterten und homophoben Feigling, der sich sein Leben lang verraten hat, gequält. Das Hausmädchen ist verzweifelt, weil ihr Geliebter eine zweite Familie hat.

Das Glück ist das Unwahrscheinliche schlechthin

Mit den Geständnissen träufeln ihm alle ihr Gift ins Ohr und geben ihm die Erfahrung, dass Glück nicht ohne Schmerz existiert.

„Der Schmerz ist seine Erziehung und sein Glaube. Durch den Schmerz wird er wieder gläubig. Er glaubt nur oder vor allem an das, was leidet. Er glaubt an Superman, an den er übrigens ganz offensichtlich nicht glaubt [...] Aber was immer er mit dem GLÜCK oder später auch ganz allgemein mit dem GUTEN anstellt, es ist überschattet von Misstrauen [...].“

Der Protagonist sucht immer nach einer Bestätigung dafür, dass alles Glück mit Schmerz verbunden ist. Er will die dunklen Wunden ans Licht bringen, die das Glück verdeckt. Seine Empfindsamkeit hat nur Augen für den Schmerz und ist unheilbar blind für alles, was nicht Schmerz ist. Das verbale Gift, das ihm verabreicht wird, muss aber auch wieder aus seinem Körper heraus. Er erbricht es immer wieder in einem Schwall von Tränen, vor denen er mit der Zeit einen Ekel entwickelt.

Spuren einer untergegangenen Welt

Die „Geschichte der Tränen“ ist der erste Teil einer Romantrilogie über argentinische Zeitgeschichte. Auf Spanisch ist heuer mit "Geschichte der Haare" bereits der zweite Teil erschienen. Alan Pauls spannt seinen Roman über zwei Jahrzehnte der argentinischen Geschichte im 20. Jahrhundert, zwei Jahrzehnte der Instabilität, in denen das Militär alle gesellschaftlichen Bereiche dominierte, vor allem aber die Politik. Pauls wirft dabei einen neuen Blick auf die letzte Militärdiktatur Argentiniens, den eines irrelevanten Zeugen.

Der argentinische Autor Alan Pauls an einer Wand lehnend

Axel Chaulet

Alan Pauls; © Axel Chaulet

Der Protagonist weiß eigentlich nichts, hat nichts gesehen und sein Zeugnis ist nicht wirklich interessant. Er engagiert sich nicht politisch, sondern erlebt nur das politische Engagement Anderer. Er ist ein Trittbrettfahrer, der den Crashkurs zum bewaffneten Kämpfer als Fernstudium über marxistische Zeitschriften und Bücher absolviert.

Zeitgeschichtliche Informationen, Zensur und Repression, Verbrechen der Militärdiktatur, linker und rechte Terror werden nicht chronologisch erzählt, sondern eingestreut. Der Erzähler ist verwirrt, er springt zwischen Epochen und Erzählzeiten ohne klare Abtrennungen, mitten im Satz. Es ist fast aussichtslos, eine logische Linie im Roman zu suchen. Die Schilderungen sind trügerisch, Erinnerungen werden mit Fakten vermengt, obwohl in der dritten Person erzählt wird. Pauls gibt seinen LeserInnen wenig Orientierungspunkte.

Unmöglich in zwei Sätzen zu erzählen

Pauls fängt die Qual, sich an seinen Stil zu gewöhnen, allerdings mit Selbstironie und Selbstreferenz ab:
"Wenn er sich wenigstens klar ausdrücken würde."

Verlieren kann man sich auch in Pauls' ewig langen Schachtelsätzen, die sich durchaus auch über zwei, drei Seiten ziehen können. So erzählt er z.B. in einem Nebensatz, der sich über 37 Zeilen erstreckt, die Geschichte des Pfarrers in Nanni Morettis Film "La messa è finita". Manche Assoziationsketten hören scheinbar nie auf, bzw. werden später wieder aufgegriffen.

Für LiebhaberInnen verschlungener Prosa ist Pauls uneingeschränkt zu empfehlen. Von seinen von intertextuellen und intermedialen Anspielungen reichenden (von Akira Kurosawa zu Jean Paul Sartre bis zu Manuel Puig ) Ausschweifungen kann man sich hervorragend treiben lassen.