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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

29. 9. 2010 - 16:09

"Jugend" ist abgeschafft.

Rund um 1900 entstand das, was man Jugendkultur nennt; und das gesamte 20. Jahrhundert entwickelte sich dann zunehmend zu einem Hochamt für "die Jugend". Das 20. Jahrhundert ist aber vorbei; mitsamt seinem mittlerweile irrelevanten Jugendbegriff.

Dieser Text stellt die Ausgangs-Basis der heutigen Bonustrack-Sendung dar, der FM4-Mitternachtseinlage am Mittwoch. So ist das jetzt, nach der Sommerpause.

Phone-In Möglichkeit unter 0800- 226 996; von außerhalb Österreichs unter 43-1-503 63 18.
Lines open ab Mitternacht, aber erst nach dem Vortrag der "Kurzversion für Dummies", die weiter unten in dieser Spalte zu finden ist. Literate Menschen können ja bereits vorher hier posten...

Weiterführende Infos und Anregungen finden sich im phantastischen Reader "Wir wollen eine andere Welt" - Jugend in Deutschland 1900 bis 2010. Eine private Geschichte aus Tagebüchern, Briefen, Dokumenten. Zusammengestellt von Fred Grimm, erschienen bei Tolkemitt bei Zweitausendeins.

Das Cover von "Wir wollen eine andere Welt"

tolkemitt-verlag

Eine interessante Geschichte zum Thema (auch mit weiterführenden Lese-Tipps) findet sich hier, im der aktuellen Printmedien-Tod sterbenden Rheinischen Merkur.

Vor zwei Wochen habe ich ebenfalls an gleicher Stelle versucht den Konflikt rund um die Krise der Musikindustrie aus der aktuellen, sehr verengten Fluch-oder-Segen-Debatte rauszuziehen und sie in einen größeren Zusammenhang zu stellen.

These: die (auch kommerzielle) Blütezeit für die Kreateure populärer Musik mit Anspruch war ein Zufall der Geschichte. Nach dem Zerfall der entsprechenden Vorraussetzungen kehrt alles wieder in die Normalität von davor zurück.

Vor einer Woche habe ich an gleicher Stelle die (aus ihrer Sicht durchaus) gerechtfertigte Diskursverweigerung der aktuell jungen Generation, einer Übergangs-Generation zwischen analoger und digitaler Welt, behandelt. Dabei war es mir auch wichtig, die (immer und in jedem Zusammenhang kreuzdoofe) zu kurz greifende Fluch-oder-Segen-Debatte (warum sind die Jungen so angepasst?) zu vermeiden und den größeren Zusammenhang auszustellen.

These dort: durch die Beliebigkeit der Verwendung des Jugend-Begriffs und seine knallharte Besetzung der Generation 35-50 angesichts einer zunehmenden Wettbewerbssituation aller sind die tatsächlich Jungen in der Geiselhaft unerfüllbarer Ansprüche gefangen.

Angst und Zuversicht

Am letzten Freitag wurden die Gewinner des Wortlaut-Wettbewerbs vorgestellt. Der Siegertext von Viktor Gallandi spiegelt diese Geiselhaft (in einer überhöht-kafkaesken Zuspitzung) wider, macht das Elend der Anforderung, die in einem global vernetzten Lebens- und Arbeits-Alltag die Chance auf freie Entwicklung bereits überwuchert hat, sichtbar.

Im Vorwort zum aktuell vielfach (hier auch von Christiane Rösinger) herumgereichten Lesebuch "Wir wollen eine andere Welt - Jugend in Deutschland 1900 bis 2010" von Fred Grimm (einer Sammlung von Briefen, Tagebüchern, Blogs etc.) findet sich eine Klammer der beiden Thesen.

Denn auch hier geht es um das größere Bild, den weiter gefassten Zusammenhang, der uns aus den kleingeistigen Diskussionen auf Boulevard-Niveau raushalten, von der schieren Teilnahme an Trottel-Votings befreien kann.

Und auch hier ist es nötig, vorhandene Denk-Muster zu hinterfragen. Genauso wie es kein ewiges Recht auf die anständige Bezahlung von Musikschaffenden gibt, genauso wie sich also die Vorstellung von Musik als Ware/Kunst/Unterhaltung stetig wandelt, genauso wandelt sich der Jugend-Begriff.

Fred Grimm fasst das (im Schnelldurchlauf) so zusammen. Es wäre faszinierend, "wie 'Jugend' im Laufe des vergangenen Jahrhunderts von einem abschätzig gemeinten oder gar idiotisch überhöhten Kampfbegriff zum Symbol generationsübergreifender Sehnsucht geworden ist."

"Die Idee 'Jugend', also das Offenhalten von Optionen aller Art, ob im Job oder privat, das Nicht-zu-alt-für-was-auch-immer-sein hat quer durch alle Generationen gesiegt.", sagt Grimm und schiebt einen vorsichtigen Satz, dass noch unklar sei, ob damit wirklich etwas gewonnen oder gar etwas verloren wäre, nach.

Jugend, Schnugend...

Und hier ist sie wieder, die beliebte Kurzversion für Dummies und alle, die voll ur keine Zeit haben und in überfordernden Medien-Zeiten wie diesen nur noch mediale Kleinst-Happen verdauen können.

Es ist zuviel von dir verlangt an bereits Besprochenes anzuknüpfen, ich weiß eh. Egal. Also: mit der Jugend ist es so wie mit der lässigen Musik, für die man als toller Künstler gerecht entlohnt wird: das gibt es erst seit hundert Jahren. War vorher tausende Jahre anders. Und: beides hört sich jetzt auf.

Früher, also von 1900 ist ein Kind direkt zum Erwachsenen geworden, nix dazwischengeschaltete Jugend, keine Zeit für Experimente, Sich-Ausprobiern und coole Sache. Sofort, zack, in die Arbeitswelt. Das mit der "Jugend" und der eigenen "Jugendkultur" gibts erst ganz kurz.

Und - ist auch schon wieder vorbei. Denn heute musst du dich als Junger sofort entscheiden, anpassen und vor allem: funktionieren. Schon in der Schule. Nachher warten schulische Ausbildungen, die dich direkt in den Job reinwerfen und viel unbezahlte Arbeit. Nix mit Freiheit und Probieren - das tun nur Loser; sagt auch der Wortlaut-Gewinner in seinem Super-Text.

Warum trotzdem soviel und nur und dauernd von "Jugend" die Rede ist, bei allem und jedem? Wegen des schlechten Gewissens derer, die das kaputt gemacht haben. Mit dem Schmäh, dass heute alle jung sind (bis über 50 mindestens) und alles Jugendkultur ist, will man davon ablenken, dass man die Übergangs-Phase von Kindheit ins Erwachsensein abgeschafft hat.

Jugend - abgeschafft. Kannibalisiert, aufgefressen. Gemein!

Song zum Thema:
Hundsgemein von Ideal.

Wenn, wie Grimm anderswo anmerkt, in einzelnen Teilbereichen auch die über 50-Jährigen diesen Lebensstil fortführen, dann löst das allerdings den klassischen Jugendbegriff völlig auf.
Die noch in unseren Köpfen spukende Definition der Zeitphase zwischen Kindheit und Erwachsenen ist eine recht neuzeitliche Erfindung - vor dem 20. Jahrhundert gab es das alles noch gar nicht; Kinder wurden ganz normal als Arbeitskräfte oder Sexualpartner /-objekte herangezogen; die Grenzen wurden nicht vom Alter, sondern via Stellung und Klasse gezogen.

Und geänderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wie es etwa die mittlerweile bis in die Pensionsreife hinein ausgedehnte "jugendliche Befindlichkeit" darstellt, erfordern auch einen neuen Blick auf den Status Quo.

Aktuell wird auch deshalb so viel um Jugend, Jugendlichkeit, Jugendkultur oder Jugendwahn herumgeraunzt oder gemäkelt, weil hinter unserem Denken noch ein (bereits weitaus überholtes) Jugend-Ideal aus etwa den 60ern/70ern steht.

Die Maß-Einheiten sind also völlig falsch.

Das ist in etwa so daneben als würde man "Freunde" in Social Networks mit richtigen Freunden im echten Leben gleichsetzen; oder als würde man Afrika heute noch ausschließlich nach kolonialen Einfluss-Zonen betrachten und bewerten.
Reine Provokation, diese Beispiele, ich weiß. Denn: beides tun viele unbedacht ja nach wie vor.

Das ist seltsam, weil sich andere Bilder im Vergleichszeitraum ja drastisch gedreht haben und von der Verklärung in eine neue Realität übergeführt werden konnten. Das Bild des Berufs-Politikers etwa, oder das des Lehrers an sich.

Jugend? Gibts nicht mehr!

Nur im Fall der "Jugend" klappt das nicht. Da spielt zuviel mit, was mit Projektion, Aufladung, Sehnsuchtsräumen etc. zu tun hat.

In jedem Fall hat das altmodische verklärte Jugend-Bild des 20. Jahrhunderts im 21. nichts mehr verloren. Auch weil damit so viel weggelogen werden kann.

Denn der Rückgriff auf die Tatsache, dass es wieder einen direkten Übergang vom Kind (unverantwortlich, dependent) zum Erwachsenen (eigenverantwortlich) gibt, macht ja den aktuell vorherrschenden Meta-Trend der permanenten Konkurrenz-Situation erst möglich.

Die Ausbeutung der "jugendlichen" Arbeitskraft (egal ob im herkömmlichen Arbeits-Prozess oder mittels sozialem Engegement) steht nicht so sehr für die endlose Verlängerung der Jugend als vielmehr für die möglichst frühe Beendigung der Kindheit und das sofortige Rüberholen in die Erwachsenen-Welt, in der (wie früher, siehe oben) nicht das Alter die Grenze definiert, sondern die Stellung bzw. die Klasse.

Mit den endlosen "Jugend-Verlängerung-Fluch-oder-Segen"-Pseudo-Debatten versucht sich eine ganze Gesellschaft selber in den Sack zu lügen; damit man selber, die Generation der Zerstörer einer schönen Idee, nicht zu schlecht dasteht.

Denn: Jugend, wirkliche Jugend, in der Experiment, Ausprobieren, Zeitgeben, Sich-Zeit-Nehmen möglich und sogar erwünscht sind - das ist abgeschafft.

Retour ins 19. Jahrhundert

Das aktuell dieser Alterskohorte vorgegebene Ding schmeckt so wie der Gallandi-Text und schreibt Entscheidungen und Weichenstellungen im frühkindlichen Alter vor; Studien, welcher Art auch immer, haben schon im Schulalter einem Zweck zu dienen, selbst im scheinbar experimentellen Kunst-Bereich.

Bravsein und Funktionieren sind die Maximen dieser Anforderung, die sich von der guten alten Kinderarbeit nur in der technischen Qualität unterscheidet.

Das, was ringsherum als Jugend bzw. Jugendkultur verkauft wird, ist mittlerweile nichts als ein Pleonasmus. Es meint alle im Erwerbsleben Stehenden und an der aktuellen Kultur Teilhabenden und grenzt sich maximal noch von den letzten Ausläufern der Kriegsgeneration ab - in 20 Jahren wird aber auch diese Schwelle verschwinden.

Die Jugend ist also schleichend abgeschafft worden.
Man hat sie vielmehr kannibalisiert.
Kinder werden wieder sofort in die Arbeitswelt gesteckt.
In mancher Hinsicht hat das 20. Jahrhundert also gar nicht existiert.