Erstellt am: 27. 9. 2010 - 19:37 Uhr
Fußball-Journal '10-56.
Meisterschaft und Cup, das "europäische Geschäft", das Nationalteam, der Nachwuchs, aber vor allem auch das hiesige Medienverhalten und die Wahnsinnigkeiten im Umfeld: das Fußball-Journal '10 begleitet die Saison ungeschönt.
Heute mit dem Versuch einer mittelfristigen Analyse der Spielweise einiger österreichischer Bundesligisten zwischen Kampf und Technik, Systemen und spielerischer Qualität.
Unter besonderer Beachtung von Ried, Innsbruck und der Austria auf der einen, sowie Salzburg und Rapid auf der anderen Seite.
Es ist aktuell die Lieblingsfrage der (wenigen) Fußball-Journalisten, die sich und ihren Job noch ernstnehmen: "Wie wichtig ist Taktik im modernen Fußball? Wie würde Ihre Antwort ausfallen, wenn jemand Ihnen gegenüber behauptet, Taktik wäre überbewertet?" In einem Fußball-Umfeld, in dem der nominell wichtigste Coach so einen Schwachfug ablassen kann, ohne sofort zurücktreten zu müssen, stellt diese Nachfrage journalistische Notwehr dar.
Der nicht unproblematische, aber fachlich unbestrittene Christoph Daum antwortet darauf im Kurier-Interview am Sonntag wie folgt: "Wichtig ist, dass jeder Spieler die Taktik so verinnerlicht hat, dass beim Ausfall eines Spielers trotzdem genauso weitergespielt werden kann. Taktik ist ein Segment des Fußballs. Taktik gewinnt kein Spiel. Taktik ist ein Mittel, um Spiele zu gewinnen. Spieler gewinnen Spiele. Man soll Taktik nicht überbewerten, aber ohne geht's nicht. Du kannst nicht einfach sagen: Geht raus und spielt mal drauflos."
Paul Gludovatz, aktuell eine der ganz wenigen heimischen Referenzen, mit dem man zu Themen wie diesen sprechen kann, ohne sich für die Antworten fremdschämen zu müssen, hat vor kurzer Zeit an gleicher Stelle Ähnliches gesagt: "Wir versuchen flexibel zu sein und ein dem jeweiligen Gegner leicht angepasstes System zu praktizieren."
Ausbalancieren von Personal und System
Die, denen sowas wie Fachmannschaft zuzutrauen ist (anstatt dem angewandten 'Entsetzlichen Realismus', den Daum in seinem Schlusssatz ungewollt paraphrasiert hat, zu frönen), wissen es und können es auch formulieren: dass es, wie immer und überall im Leben, um die Mischung geht. Um das Ausbalancieren, um die Kunst den Samen des Visionären und Riskanten (aber im Erfolgsfall extrem Beglückenden) ins Machbare zu pflanzen.
System/Stategie/Taktik, moderne Trainingsarbeit eben, kann die fünf Prozent rauskitzeln, um die es im Spitzenfußball geht. Um die fünf Prozent, die das Loch zur wirklichen Klasse zwar nicht schließen, aber doch bedeutsam kleiner machen könnten.
Das zu erkennen (und dann, im nächsten Schritt anzugehen und auch umzusetzen) setzt Bewusstsein voraus.
Da in Österreich aber die Bewusstlosigkeit der dominante Aggregatszustand ist, bleibt die Anzahl der Riskierer, Probierer und Visionäre so gering. Da sich in Österreich eine kleinbürgerliche Intelektuellenfeindlichkeit mit der Arbeitsmoral beamtischer Duckmäuser koaliert, stellen die potentiellen Neuerer phantastische Feindbilder dar: jeder, der was Neues ausprobieren will, jeder der womöglich fremdländische Ansätze einbringt, der kann sofort und problemlos als träumender Gutmensch diffamiert werden. Aus dem Blickwinkel derer, die sich inhaltlich aufgegeben haben, psychologisch durchaus nachvollziehbar.
Die positiven Ausnahmen
Im Lichte dieses (noch nicht direkt ausgesprochenen, aber bereits andeutungsweise beginnenden) Kampfs zwischen der Macht und den Rebellen gilt es auf ein paar Entwicklungen in der obersten Liga hinzuweisen, die direkt mit dieser Balance von Personal und System, mit dem Bewusstsein des Aufholen-Müssens, also mit jenen, die Nachhaltigkeit fabrizieren, zu tun haben.
Ich darf drei durchaus positive Beispiele herausgreifen (Ried, Wacker, Austria) und einer Art Elchtest unterziehen.
Zur Erklärung möchte ich ein Zitat von Alfred Tatar heranziehen, der eine Klasse unter meinen Beispielen mit den Umständen rauft, wie die Laokoongruppe mit der Schlange. Seine Fehler-Analyse bei der Vienna ergab etwas, was bei fast allen Ö-Teams (vor allem auch dem obersten, dem ÖFB-Team) festzustellen ist: die Formationen seien viel zu weit auseinander. Das klingt banal (ist es auch), stellt aber eine zentrale Crux dar.
Moderner Fußball lebt vom Ineinandergreifen der Formationen. Die sture Aufgabentrennung ist längst Geschichte. Hierzulande begreift man gerade einmal langsam die längst geänderten Anforderungen an die zentralen Mittelfeldspieler, von dem was ein Innen- oder gar Außenverteidiger leisten muss, ist man noch Denk-Kilometer entfernt. Das hat damit zu tun, dass die meisten Coaches in einer fernen, rein arbeitsteilig organisierten Zeit fußballerisch sozialisiert wurden und (da lernresistent) immer noch in dieser ihrer Vergangenheit leben und das Problemfeld nicht einmal als solches erkennen können.
Bei meinen drei Beispielen ist das bereits (großteils) überwunden.
Das Ende klassischen Formationsdenkens, z.B. bei Ried
Da Gludovatz' 3-3-3-1 viele Menschen vor (ganz simple) Probleme (des reinen Erkennens) stellt: denkt euch stattdessen ein 5-1-3-1; also eine Fünfer-Abwehr alten Stils, einen zentral defensiven und drei offensive Mittelfeldspieler.
Da Gludovatz auch die beiden Außenverteidiger vorziehen kann, hat er im Optimalfall sechs attackierende Offensivspieler, also garantierte Überzahl.
Durch sein fluides und flexibles System hat er aber vor allem das klassische Formations-Denken aufgelöst. Mit Ausnahme eines zentralen Verteidigers und eines Stürmers sind alle anderen Spieler andauernd gezwungen, nein, besser: aufgefordert, stets in beiden Zuständen (Defense, Offense) zu denken und zu leben.
Dadurch ist die SV Ried unter Gludovatz reaktionsschneller und handlungsintensiver und spielt in Salzburg beim vielfach besser besetzten Meister problemlos auf Augenhöhe mit.
Beispiel 2: Wacker Innsbruck
Am Tivoli ist das, was in Ried durch viel Zuschauen, Nachdenken, Durchbesprechen, Ausprobieren und Machen akribisch erarbeitet wurde, womöglich ein bisserl zufälliger entstanden.
Dort spielt Walter Kogler aktuell ein hochflexibles 4-1-4-1 (mit gleich zwei Akteuren in der Offensiv-Zentrale) und jederzeitiger Umschaltmöglichkeit auf ein rautiges 4-4-2. Schreter gibt eine hängende Spitze (Typus Andy Möller), Prokopic einen Offensiv-Zentralen der neuen Schule (die der deutschen Wunderzwerge, Özil, Marin, Kroos...). Die beiden sichert nur ein 6er ab. Dazu kommt ein belebendes Flügelspiel, auch von Seiten der Außenverteidiger. Und einer, der das letzte Saison gemacht hat (Fabian Koch, rechts) agiert jetzt im Mittelfeld.
Auch in Innsbruck greifen die Formationen dergestalt tief und dauernd ineinander - was das beidseitige Denken erleichtert.
Beispiel 3: Austria Wien
Karl Daxbacher macht nominell nichts anderes als die meisten heimischen Coaches seit den 90ern: ein flaches 4-4-2 ohne offensive Zentrale, vorsichtig angelegt.
Der entscheidende Unterschied ist: Daxbacher hat sich von dem jahrelang gebetsmühlenartig herbeigebeteten und niemand hinterfragten Vollkoffer-Diktum des "über den Kampf ins Spiel kommen" gelöst.
Bei Daxbacher wird nicht mit Härte und dem risikolosen Ball gepunktet, sondern mit spielerischer Qualität und Ballbesitz-Denken. Seine aktuelle, Acimovic-freie Mischung an Spielern erlaubt es der Austria (und genau aus diesen Gründen wurde die Mannschaft in den letzten zwei Saisonen mit genau solchen Typen verstärkt) das Spiel aktiv zu gestalten.
Ballsicher, spielstark, kombinationssicher.
Es ist, wie der damals noch als TV-Analytiker tätige Alfred Tatar gesagt hat: dieses Spiel der Austria erlaubt Fehler, solange die grundsätzliche Philosophie (die der gepflegten, aktiv gestalteten Spielkultur) gewahrt bleibt.
Wichtigster Pfeiler dieser Kultur ist Österreichs aktuell bester Fußballspieler: Julian Baumgartlinger. Im zentralen Mittelfeld aufgeboten, ist er - als einer der ganz wenigen Österreicher - imstande, die Anforderungen des modernen Spiels zu erfüllen; Baumgartlinger ist zum einen Balleroberer, Aufbauer, Initiator, geht aber auch selber in die offensive Zentrale mit, treibt Bälle, gerne über rechts, in die Spitze, riskiert den tädlichen Pass, und schießt auch. Er vollführt also alles, was früher Aufgabe eines 6er, eines 8er und auch noch eines 7er war; in einer Person. Und damit ist er auf internationalem Level. Wohl auch weil er in Deutschland ausgebildet wurde.
Austrias Real Football Star: Julian Baumgartlinger.
Dazu kommen andere wie Junuzovic, Stankovic, zuvor Liendl, offensiv denkende kluge Jungs; oder die womöglich modernste österreichische Innenverteidigung (Margreitter-Dragovic); ein Außenspieler wie Florian Klein und ein Stürmer wie Roland Linz, der zuletzt beim ÖFB-Team bewiesen hat, wie intelligent er zu spielen vermag.
Die Austria besteht also aus spielintelligenten Jungs, die mit Ballbesitz und Geduld, dem Vertrauen auf ihre Technik und ihren Spielwitz das Spiel (und damit auch den Gegner) vor sich hertreiben. Das erinnert an die alte Austria-Schule, aber auch an spanische, holländische oder französische Beispiele. Der Kampf, das war gestern, das Spiel, das ist heute und morgen.
Im Sonntagsspiel gegen Sturm Graz (auch ein spielerisch recht gutes Team) war das auffällig. Während ein lachhafter Sky-Kommentator ständig Fouls und Härte einforderte, erspielte sich die Austria ihre Szenen, hielt den Ball, kombininierte, anstatt in Rottweiler-Posen zu erstarren.
Nicht vergessen: vieles davon klappt noch nicht; einiges läuft noch unrund,. Aris Saloniki hat die aktuellen Grenzen dieser Spielanlage aufgezeigt.
Aber: bei der Austria wird (ebenso wie in Ried und vielleicht in Innsbruck) ganz bewusst etwas entwickelt; eine Philosophie, eine Grundhaltung, einen Attitüde.
Diese Haltung ist deshalb richtig, weil der Anschluss an die internationale Klasse nur über die Technik, die Fertigkeit, die Spielintelligenz zu finden ist - nicht über den Kampf. Zumindest nicht die Art von Kampf, wie sie in Österreich verstanden wird; wo mit Wehleidigkeit gepaarte Destruktivität national zwar manchmal klappt, international aber regelmäßig scheitert. Mit dem Schmäh ist man seit Jahrzehnten eingfahren - weg damit.
Abwärts...
... geht es hingegen merklich bei Salzburg und Rapid.
Stevens hat seit 4-1-4-1 in den letzten Spielen zwar wieder gestrafft (und vor allem den Fehler Svento korrigiert), spielerisch leistet sein Team aber weiter zu wenig. Das Potential/Personal wäre vorhanden - die Spielanlage (Destruktions-Fußball, auf Konter ausgerichtet, wenig Zusammenarbeit der Formationen) lässt aber nicht mehr zu als das, was Christoph Leitgab manchmal erläuft. Dazu kommen diverse andere, hier eh ausführlich analysierte Probleme.
Rapid hätte dieselbe Grund-Formation wie die Austria, verfügt aber über keinerlei Philiosophie. "Alles auf den Steff spielen" ist nämlich keine. Da das defensive Mittelfeld Kreativ-Verbot hat und an der Abwehr klebt, zerfällt das Rapid-Spiel in zwei Teile. Anstatt wie bei den drei Positiv-Beispielen mit einer Mannschaft, hat man es bei Rapid mit einer Defense und einer Offense zu tun. Am anschaulichsten zelebriert das "Hinter-mir-die-Sintflut"-Hofmann.
Da Rapid deshalb spielerisch nicht mehr Liga-Spitze darstellt, zerfällt auch die Macht im Hanappi.
Am Samstag war dem Außenseiter Kapfenberg keinerlei Furcht anzumerken - im Gegenteil, man war Pacults wie immer unklar eingestellter Truppe spielerisch sogar überlegen. Kapfenberg. Überlegen. In Hütteldorf.
Und zwar nicht zufällig.
Das hat auch mit der klugen Taktik von Gregoritsch zu tun, der sein flexibles Mittelfeld jedesmal anders gruppieren kann, ohne dabei seine Akteure zu verwirren. Auch hier bahnt sich etwas an, was Beobachtung verdient.
Worst Case: ÖFB-Team
Weit unter dem Stehenbleiber-Fußball von Salzburg und Rapid agiert nur noch eine wichtige Mannschaft: das Nationalteam.
Völlig ideen- und strategielos; ganz ohne mittelfristig geübtes System, bar jeder (bekanntlich ja eh nur überschätzten) Taktik. Das an sich durchaus vorhandene und teilweise sogar auch einberufene Personal wird durch inexistente strategische Betreuung in peinliche Konflikte gejagt.
Da, wo bei Ried, Innsbruck, Kapfenberg, Neustadt, manchmal auch Sturm oder der Austria deutlich nachgedacht, überlegt, abgewogen und gehandelt wird; da, wo man bei Rapid und Salzburg gerade ansteht, dort ist beim ÖFB nur ein großes Nichts.
Dabei ist - und die Positivbeispiele zeigen das ja ganz stark - die intensive Beschäftigung mit der Grundhaltung, der Philosophie ja der Weg, die entscheidenden fünf Prozent rauszzukitzeln. Was man als Kleiner sowieso immer tun muss, wenn man sich gegen tendenziell Größere und Bessere durchsetzen will. Westbromwich (mit Paul Scharner) hätte es am Wochenende vorgezeigt, beim Auswärtssieg bei Arsenal; wie man sich mit spielerischen Mitteln, mit Kombinations-Fußball durchsetzt, anstatt sich in Kampf, Krampf und Konterspiel um jeden Preis zu verbeißen.