Erstellt am: 27. 9. 2010 - 15:20 Uhr
Der Wald ruft
Wahrscheinlich ist meine Kindheit in der Oststeiermark schuld, die Spaziergänge als kleiner Bub mit meinen Eltern, bei denen die Fantasie sich regelmäßig überschlagen hat.
Noch mehr hat es wohl mit den Märchen zu tun, die mir mein Vater schon in jüngsten Jahren vorgelesen hat, den genialen und grausamen Erzählungen der Gebrüder Grimm oder des gruseligen Ludwig Bechstein.
Irgendwann, ich war damals gerade im Kindergarten, kehrte dann immer wieder der selbe Traum wieder. Ich wanderte zusammen mit Hänsel und Gretel durch einen stockdunklen Wald, mit bebendem Herz. Plötzlich kamen wir dann vor ein Haus, in dem eine spindeldürre Gestalt aus dem Fenster grinste.
Meine Erinnerungen verwischen sich, aber da war blanke Panik und lustvolle Aufregung gleichzeitig. Die Hexe verfolgte uns, wie heute noch in meinen Träumen switchte ich selber die Charaktere, war Hänsel, Gretel, die Hexe abwechselnd. Aufgewacht bin ich jedes Mal zitternd, wenn ein riesiger Holzarbeiter mit einer Axt auf mich zurannte.
Steirischer Herbst
Wälder sind für mich jedenfalls immer verwunschene, magische Orte geblieben. Auch heute noch, bei Zugfahrten durch Österreich oder beim Wandern, lösen sie seltsame, sinistre und wunderbare Assoziationen aus. Aber mindestens so faszinierend wie die realen Wälder, nein, viel mehr noch, berühren mich Waldlandschaften auf der Leinwand.
Mir fällt spontan natürlich sofort "Antichrist" von Lars von Trier ein, dessen gespenstische Atmosphäre sich auch aus einem kollektiven Vorrat an Sagen und Mythen nährt. Aber auch alte Märchenfilme aus der ehemaligen DDR, atemberaubende Szenen in Klassikern von Dario Argento, die Gänsehaut erregende Werwolffabel "The Company of Wolves" von Neil Jordan, bizarre Arthousestreifen wie "Innocence" von der französischen Regisseurin Lucile Hadzihalilovic.
Und klarerweise "Twin Peaks", die göttliche Serie von David Lynch, nach der kein Besuch in der heimischen Provinz mehr derselbe war, weil im Kopf immer der monströse Bob durch die Wälder spukte und ich da draußen in jedem finsteren Forst heute noch die Existenz einer schwarzen Hütte vermute.
Ich kann auch noch das hunderste Plattencover mit einer Band im Wald anziehend finden, liebe märchenhafte Modefotos zwischen Tannen und Fichten, verdanke meine kurzfristige Begeisterung für die Abgründe des Black Metal der Vorstellung von pittoresk geschminkten Musikern in skandinavischen Wäldern.
Steirischer Herbst
Wenn der Wald ruft, dann folge ich. Und als ich vor Monaten, in einer Aussendung zum heurigen "Steirischen Herbst", auf die Theaterperformance der Regisseurin und Choreografin Gisèle Vienne aufmerksam wurde, war das wieder einer dieser Momente. Die Beschreibungen im Programmheft triggerten erneut Bilder, lösten einen wohligen Schauer aus.
Man muss sich, plakativ gesprochen, "This is how you will disappear" wie ein gemeinsames Stück von Lars von Trier und David Lynch vorstellen. Mit einem riesigen Unterschied: Gisèle Vienne, das junge französische Multitalent, setzt auf Zurückhaltung, Ruhe, forciert den Stillstand, deutet die Gewalt in der Natur nur an, lässt sie nie wirklich plakativ ausbrechen. Trotzdem ist das schleichende Grauen, welcher Art auch immer, omnipräsent in diesen neunzig Minuten im Grazer MUMUTH.
Was mich als prinzipiellen Bühnenallergiker, der an den Abstraktionen des modernen Regietheaters scheitert, sofort begeistert, ist der übersteigerte Naturalismus. Am anderen Ende des Saals, in der Finsternis, ziehen Nebelschwaden durch einen Wald, wie aus meinen Hänsel und Gretel-Albträumen entsprungen. Kein fauler angedeuteter Kulissenzauber, ein romantisches Bühnenwunderwerk ist das.
Mitten drinnen, in der artifiziellen Landschaft, im wabernden Trockeneis, turnt eine junge blonde Athletin, ihr gegenüber ein strenger junger Trainer. Mann- und Frau-Archetypen haben sich in den Kunstwald verirrt, Geschlechterklischees kollidieren in Zeitlupe, irgendwann taucht ein Rockstarklischee in Leder und Nieten zwischen den Bäumen auf.
Steirischer Herbst
Worte braucht es glücklicherweise wenige, die ausgesuchten, bruchstückhaften Sätze stammen allerdings vom amerikanischen Radikal-Literaten Dennis Cooper, irgendwann wird eine Morddrohung ausgesprochen, die Natur scheint wie schon in "Antichrist" das Chaos und die Wildheit zu forcieren.
Ehrlich gesagt wird für mich der Inhalt von Gisèle Viennes Stück, die sich in der Vergangenheit etwa in ihren "Kindertotenliedern" mit surrealen Metalritualen beschäftigte, aber ohnehin nebensächlich. "This is how you will disappear" mutiert schon nach kurzer Zeit zur reinen sinnlichen Erfahrung.
Denn neben dem Nebel, der kühl den ganzen Raum erfasst, ist es die großartige Musik, die einen als Zuseher umhüllt. Stephen O’Malley, von den britischen Dronemetallern Sunn o))) und Mego-Mastermind Peter Rehberg lassen als KTL die Wände erzittern, mixen Noise mit majestätischen Gitarrenloops und hypnotischer Elektronik.
Alle Fotos (c) Steirischer Herbst 2010
Ist das jetzt Tanz, Performance oder doch nur schnödes Theater? Was ist mit der Gruppe von Campingurlaubern passiert, die sekundenlang in puppenhafter Starre aufblitzen? Wer verübt hier welches Verbrechen? Und sind das nicht echte Vögel, fliegt hier nicht eine Eule direkt aus der Black Lodge auf die Bühne? Alles egal, der Nebel wird dichter, es riecht in meinem Kopf nach Moos und Blättern, die Musik dröhnt intensiv. Der Wald ruft und es ist ein Abend in purer Schönheit.
Steirischer Herbst