Erstellt am: 25. 9. 2010 - 13:51 Uhr
Jonathan Franzen: "Freiheit"
Fast drei Millionen Mal ist Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" seit 2001 weltweit verkauft worden. Danach hat der amerikanische Autor neun Jahre gebraucht, um ein neues Buch zu schreiben. Neun Jahre, in denen er dem Erfolgsdruck des Vorgängerromans standhalten musste, in denen er mit Depressionen kämpfte und sich zeitweilig von der Zivilisation verabschiedete. Als die Schreibblockade verschwand, gelang ihm innerhalb eines Jahres ein mehr als 700 Seiten dicker Roman: "Freiheit". Endlich. Das Warten hat sich gelohnt.
Immer wieder taucht sie auf im Buch, die Freiheit, und sie kann vieles sein: freie Liebe, Befreiung durch Rockmusik, die freie Marktwirtschaft, Kriegsoperationen im Nahen Osten, aber vor allem: Die Freiheit als höchstes Gut des Individuums.
rowohlt verlag
"Es kreist doch alles um das selbe Problem der persönlichen Freiheiten", sagte Walter. "Die Leute sind entweder wegen des Geldes oder der Freiheit in dieses Land gekommen. Hat man kein Geld, klammert man sich desto grimmiger an seine Freiheiten. Selbst wenn das Rauchen einen umbringt, selbst wenn man es sich nicht leisten kann, seine Kinder zu ernähren [...]. Man mag arm sein, aber das eine, das einem keiner nehmen kann, ist die Freiheit, sich das eigene Leben zu versauen, wie man will."
"Freiheit" von Jonathan Franzen, erschienen im Rowohlt-Verlag, ins Deutsche übersetzt von Bettina Abarbanell und Elke Schönfeld.
Perfekte Nachbarn
Franzen beschreibt die Welt, indem er sie in einzelnen Menschen spiegelt. Er zeichnet die Geschichte des Ehepaares Patty und Walter, über 30 Jahre lang, und erzählt damit doch die Geschichte eines Landes. Nach außen hin ist es perfekt, das Ehepaar, so perfekt, dass die Nachbarschaft ihnen die plötzlichen Probleme so richtig gönnt: Als der 16-Jährige Sohn abhaut und bei den rechtsradikalen Proleten-Nachbarn einzieht. Als die Ehefrau immer öfter betrunken auf der Straße anzutreffen ist. Oder auch, als der unscheinbare, liberale, immer brav mülltrennende Ehemann plötzlich in einen der größten Umweltskandale des Landes verwickelt wird.
Jonathan Franzen liefert nicht nur eine mühelos lesbare Familiengeschichte, er hat mit "Freiheit" auch einen politischen Roman geschaffen. Und so hetzt er seine Figuren in eine heikle Mission: Kann es sein, dass das Maß voll ist? Dass wir zu viele Menschen geworden sind, die sich herausnehmen, diesen Planeten kurz und klein zu schlagen? Was wäre, wenn man einfach sagen würde: Enough already! Wir sind genug, Geburtenstopp jetzt?
"Allein in Amerika", sagte er, "wird die Bevölkerung in den nächsten vier Jahrzehnten um fünfzig Prozent anwachsen. […] Und dann denk an die CO2-Emissionen weltweit, an Völkermord und Hunger in Afrika und an die radikalisierte, chancenlose Unterschicht in der arabischen Welt, an die Überfischung der Weltmeere, an illegale Siedlungen in Israel und an die Han-Chinesen, die Tibet überrennen, an Hundertmillionen Arme im Atomstaat Pakistan: Es gibt kaum ein Problem auf der Welt, das nicht dadurch gelöst oder wenigstens gewaltig gelindert würde, wenn es weniger Menschen gäbe."
Die Ära, als wir so taten, als ob
Während den neun Jahre, in denen Jonathan Franzen an diesem Buch arbeitete, erhängte sich sein bester Freund und Schriftstellerkollege David Foster Wallace. Ein Schock für Franzen - und gleichzeitig der Knall, der ihn dazu brachte, aufzustehen und weiterzumachen. Die Figur des verworrenen, alternden Indie-Musikers Richard Katz ist eine Anspielung auf Wallace und seine chiffrierte Art zu schreiben; die Darstellung der konkurrierenden Männerfreundschaft zwischen Walter und Richard trägt Züge ihrer eigenen Beziehung. In den Beschreibungen des Musikers rechnet der Autor auch mit dem Freiheitsversprechen der Rockmusik ab.
"Diese Ära, die irgendwann, gestern, zu Ende ging", lässt er Richard sagen, "du weißt schon, die Ära, als wir so taten, als wäre Rock die Geißel von Konformität und Konsumismus und nicht deren gesalbte Magd -, diese Ära hat mich echt genervt." Für die Ehrlichkeit von Rock'n'Roll und überhaupt für sein Land wäre es wichtig zu sehen, was Rockmusik ist und immer schon war: Ein gut klingendes Verkaufsargument. "Derjenige, den es interessiert, was Sheryl Crow über den Irakkrieg denkt, ist derselbe, der sich einen obszön überteuerten MP3-Player kauft, weil Bono Vox Schleichwerbung dafür macht."
Literaten, um die Sprache ehrlich zu halten
Franzen ist mit "Freiheit" ein beeindruckendes politisches wie auch gesellschaftliches Bild unserer Zeit gelungen. Akribisch schält er die Aggressionen und die versteckte Wut aus menschlichen Beziehungen, verknüpft sie mit aktuellen Debatten, verdichtet die Geschichte mit meisterhafter Beobachtungsgabe. Der Titel sei ihm während der Ära Bush gekommen, sagt er in einem Interview. Als es plötzlich um die "Operation Enduring Freedom" in Afghanistan ging, oder um den "Freedom Tower" am Ground Zero. Freedom, die Freiheit, wurde zum verlogenen Kampfbegriff.
"Dafür", sagt Franzen, "brauchen wir Literaten und Poeten: um die Sprache ehrlich zu halten, oder?"