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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

23. 9. 2010 - 18:29

Tricksen

Der steirische herbst 2010 präsentiert Virtuosität als Strategie. Eine Vorschau auf drei Wochen Kunst in Graz.

Plakat des steirischen herbst vor dem Festivalzentrum im Grazer Stadtpark

Radio FM4

Der steirischer herbst beginnt diesen Freitag, 24. September 2010

Europaletten türmen sich zu einer schrägen Tribüne vor dem Forum Stadtpark. Mit dem genormten Transportmaterial, das als Vierwegpalette von allen Seiten aufgegriffen und befördert werden kann, hat das Architekturkollektiv feld72 das Haus mit Tradition im Grazer Stadtpark aus- und umgebaut. Und zum Festivalzentrum des steirischen herbst gemacht, der Kunst aus vielen Sparten aufgreift. Drei Wochen lang ist der herbst Umschlagplatz für Theater und Tanz, bildende Kunst, Musik, Literatur und dazu Theorien, Diskurse und Spielfeldforschung.

Freitag, 24. September, geht es los, und der herbst hat 2010 die Virtuosität im Visier. "Meister, Trickster, Bricoleure" lautet das Leitmotiv und schon sind wir mittendrin, zwischen Kunst und gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Mit der scheinbaren Leichtfüßigkeit einer Primaballerina bewegen sich Jongleure auf internationalen Finanzmärkten. Im alltäglichen Leben ist Virtuosität zur Notwendigkeit und Normalität geworden, wie Intendantin Veronica Kaup-Hasler zu Recht bemerkt: permanentes Jonglieren mit disparaten Anfoderungen ist keine Ausnahme mehr, sondern tagtäglicher Ausnahmezustand für viele geworden. Berufliches und Privates, alles will vereinbart sein. Das kann ganz schön tricky sein. Setzt Kunst auf Kunstfertigkeit, stößt sie heute schnell auf Misstrauen.

Bevor die getürmten Holzpaletten um das Forum Stadtpark wieder abgebaut und zurück in den Warenverkehr wandern - die sind gemietet -, können wir bis 17. Oktober über die Fingerfertigkeit des Meisterpianisten Marino Formenti staunen, Mandarin lernen, der Konversation zweier Chatbots lauschen oder Kleingeld aus eigenen Tricks schlagen. Bester Trick für den herbst: sich darauf einlassen.

Kommenden Sonntag wird es heiß: am Tag der steirischen Landtagswahlen tätigt Michael Ostrowski einen Rundruf bei den Spitzenkanditaten beim Sonntagsbrunch im Festivalzentrum.

Das Festivalzentrum des steirischen herbst im Werden: Palettentribüne vor dem Forum Stadtpark in Graz.

Radio FM4

Hochstapeln: Das Festival für zeitgenössische Kunst sucht sich jedes Jahr einen neuen Mittelpunkt für seine Gäste und BesucherInnen. Dieses Jahr macht sich der herbst zwischen Eichhörnchen, neben dem Springbrunnen und dem (Punk-)Pavillon im Grazer Stadtpark breit.

Eine Ökonomie der Tricks im Festivalzentrum

Mit dem "Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen" hat Hannah Hurtzig beim steirischen herbst 2007 begeistert, dieses Jahr öffnet die deutsche Dramaturgin und Kuratorin das "Flight Case Archiv". Darin befinden sich über 600 Vorträge, Expertengespräche und insgesamt 330 Stunden in Erzählungen weitergegebenes Wissen. Kopfhörer auf, neuer Horizont in Sicht. (25. September - 17. Oktober, Eintritt frei)

Äußerst brauchbares, wenn gleich auch bizarres und mitunter gar weniger legales Wissen können BesucherInnen im "Casino of Tricks" austauschen. Die Geheimagentur möchte Tricks aus den Bereichen "law and order, economy, body, magic and techniques, mind and manipulation" hören. Für jeden Trick oder jede Technik erhält man Spielchips, die sich in bares Geld verwandeln lassen. So das verlockende Versprechen vorab. Doch auch im Casino darf und kann getrickst werden. (2. - 9. Oktober, täglich 16.00)

Dan Perjovschi füllte bereits für den herbst das virtuelle Tagebuch. Nun träumt Kathrin Resetarits und die britischen Theatermacher Lone Twin schielen auf Bildschirmschoner.

Mit einem Zeichenstift und wenigen Strichen kommentiert und konterkariert der rumänische Künstler Dan Perjovschi Zeitgeschehen. Ost, West, unser Ja zur modernen Welt und Perjovschis Blick darauf werden sich auf den Glasfassaden des Festivalzentrums abzeichnen. (Von 25. - 28. September kann man Dan Perjovschi beim Arbeiten zusehen)

Beunruhigung im Kunstnebel

Beim Blick ins Theaterprogramm wünsche ich mir, wieder fünf Jahre alt zu sein. "Beastie" will aber nur Kinder treffen. Erwachsene haben keine Chance, dem Geschöpf des britischen Duos Lone Twin sein Geheimnis zu entlocken. Im vergangenen Herbst haben sich die Briten Gregg Whelan und Gary Winters und Kinder Geschichten erzählt. Nun kehren sie mit Beastie zurück.

Wieder in der Stadt ist auch Gisèle Vienne, und meine Vorfreude ist groß: Mit "Jerk" zeigte die Französin vor zwei Jahren ein Puppentheater der Extraklasse, das mir in die Magengrube boxte und mich in Geiselhaft nahm. Ein Stück Splatter über einen pädophilen Serienmörder, das einem die Gänsehaut aufzog. "This is how you will disappear" führt das Publikum nun in den Wald. Natur und Triebe, echter Nebel in einem geschlossenen Bühnenraum, drei Menschen auf der Suche nach einer wirklichen Erfahrung und am Ende das Grauen. Die Musik dazu stammt u.a. von Sunn o)))-Mann Stephen O’Malley - mehr will man vorab nicht wissen. Karten sichern. (25. - 27. September)

Tipps für Theaterabende hat Barbara Köppl

Ein Mann steht in einem düsteren Wald

Sébastien Durand

Die Sprache von allein 1,3 Milliarden Menschen in der Volksrepublik China scheint den meisten EuropäerInnen unerlernbar - sprich: unverständlich. Die Theatermacherin Edit Kaldor versucht genau das: sie kommt mit fünf ChinesInnen zum steirischen herbst, die alles daran setzen, sich dem Publikum mitzuteilen. Sämtliche Register theatralischer Möglichkeiten werden gezogen, um den ZuschauerInnen grundlegendes mündliches Mandarin beizubringen. ("C'est du chinois", 14. - 16. Oktober)

Go West

Der Eröffnungsreigen diesen Samstag führt unwillkürlich zu einer Flut der Bilder im Kopf, wenn man den Parcours durch die Ausstellungen an einem Tag absolviert. Bereits vormittags zieht der Kunstverein Medienturm in den Sog von Fernsehen: Unter dem Titel "Verbotene Liebe" werden Positionen zeitgenössischer KünstlerInnen zum Massenmedium Fernsehen gezeigt. (25. September - 27. November). Nächste Station: Stadtmuseum. Hier wird der Pianist Marino Formenti acht Tage lang Werke von Klaus Lang und Morton Feldman spielen. Dem Tagesablauf samt Konzerten kann man bei freiem Eintritt beiwohnen (25. September - 2. Oktober, täglich 10.00 - 22.00). Dieser Einladung sollte man unbedingt folgen, der Mann ist ein wahrer Virtuose und ihn live spielen zu sehen, das darf man einfach nicht verpassen.

Franz West mit einem seiner Passstücke

Ausstellung Franz West c_Octavian Trauttmansdorff

Unmittelbar nach den ersten Takten Formentis eröffnet das Kunsthaus die Personale Franz West: "Autotheater, Köln – Neapel – Graz". Eine Skulptur des österreichischen Künstlers wird auch im öffentlichen Raum ausgesetzt. Doch es ist längst nicht die einzige, die der herbst in Graz platziert. "Utopie und Monument II" (Eröffnung 24. September, 17.00, Tummelplatz) will dieses Jahr die Frage aufwerfen: wie gehen KünstlerInnen mit dieser Exposition um? Intervenieren sie, verstehen sie ihre Arbeiten als poltischen Akt und bedienen sie PR-Strategien, um wahrgenommen zu werden? Der Künstler Valentin Ruhry hat bereits beim Lendwirbel 2008 eine Wäscheleine quer über eine Straße gespannt, beim herbst hängt Isa Genzken eine Wäscheleine "dedicated to Michael Jackson" über den Mariahilferplatz. Es ist eine der zwölf Installationen und Objekte im öffentlichen Raum.

Für einen Tag ist das freilich viel zu viel. Empfehlenswert sind daher die geführten Rundgänge, die an allen drei herbst-Wochenenden stattfinden.

Und Musik?

Eröffnet wird mit der "Maschinenhalle #1", die Choreografin Christine Gaigg, Komponist Bernhard Lang und Computermusiker Winfried Ritsch mit dem Licht- und Bühnensetting von Philipp Harnouncourt in Gang setzen. Mit zwölf computergesteuerten Automatenklavieren. (Das Werk ist am 25. September nochmals zu sehen.)
Keine Karten braucht man für die Party zur Eröffnung: Lali Puna spielen bei freiem Eintritt. (24. September, 22.00, Helmut-List-Halle, Graz)

Die MusikerInnen von Lali Puna stehen hinter einer Glasscheibe

Jörg Koopmann

Lali Puna

Neben Lali Puna beehren u.a. Gudrun Gut oder Keith Rowe Graz. Eine Molekularorgel wird ertönen, und im herbst-Club formieren sich neue kleinste machbare Unionen.

Auf die Paletten, fertig, los.