Erstellt am: 23. 9. 2010 - 19:21 Uhr
Wortlaut 10 - der erste Platz
"Nein, nicht wirklich. Ich bin wirklich Platz eins? Auweia. Das ist ja irre. Ich glaub's nicht. Ok, das ist jetzt erst mal heftig. Ja, gut. Okay. Uh, ich freu mich!"
Immer wieder lacht Viktor Gallandi während unseres Telefongesprächs, lässt seiner Freude freien Lauf, während die Freundin im Hintergrund jubelt. Niemals hätte er mit dem ersten Platz gerechnet, weil seine Kurzgeschichte "Die Bewerbung" mehr ein kafkaeskes Szenario entwirft. Aber genau das hat die Jury beeindruckt.
Geboren 1989 in Berlin. Aus Leidenschaft und Schulüberdruss von 2006 bis 2008 als Schülerstudent Philosophie an der HU und TU Berlin studiert. Nach der dann doch noch zu Ende gegangenen Schulzeit für das Hildesheimer Kleinstadtleben entschieden, auf der Suche nach leibhaftigem Publikum, Gleichgesinnten und Lehrern für das schriftstellerische Handwerk. Studiert dort seit 2009 Kreatives Schreiben und Kultrjournalismus. Seitdem hat sich die Überzeugung gefestigt, ein Tag sollte 35 Stunden haben.
Ideale Arbeits-bedingungen: Morgens, bei lockerer Bewölkung, an einem Tag ohne Verpflichtungen, inmitten einer lautlosen, pulsierenden Metropole mit ausgedehnten Wäldern und Seen im Stadtzentrum.
Erste Veröffentlichung einer Kurzgeschichte in Macondo Nr. 21. Arbeitet als Mitherausgeber der Landpartie 2011, der kommenden Jahresanthologie des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus.
FM4
"Die Bewerbung"
Gefangen in einem sterilen Zeitvakuum liefern sich der Ich-Erzähler und die anderen Bewerber, wie es scheint freiwillig, an ein fremdes System aus. In einem trostlosen Gang bewegen sie sich, komplett entfremdet, kaum mehr von ihren Sitzplätzen und ernähren sich nur aus dem dürftig mit Süßigkeiten bestückten Snackautomaten. Und warten. Stunden, Monate, ja, ihr ganzes Leben lang auf das Ergebnis einer Job-Bewerbung.
"Eigentlich geht es darum," erzählt Viktor, "dass die Menschen innerhalb eines Prinzips leben, das dem eigentlich menschlichen Leben in gewisser Weise entgegengesetzt ist. Dass sie eigentlich die ganze Zeit auf etwas warten, was eventuell nie eintritt." Und in dieser ganzen Zeit des Wartens könnten sie nicht richtig ein Mensch sein. "Sie sind so reduziert auf ihre Funktion als Wartender, als Bewerber, dass alle menschlichen Beziehungen, alles was normalerweise ein menschliches Leben ausmacht, sozusagen auf ein Minimum reduziert ist."
Keineswegs will Viktor aber mit der Geschichte den Finger heben, "eine moralische Intention ist da nicht drin."
Die Bewerbung
zum Nachlesen
Das Bewerbungsverfahren läuft. Ich sitze auch nach Stunden noch mit geradem Rücken in dem Plastikschalenstuhl, der zwar ergonomisch gut entworfen, aber wohl für kleinere Leute gemacht ist. Die Beine habe ich, so weit wie es geht, angezogen. Die Füße sind unterhalb des Metallgestells übereinandergeschlagen.
Haltung ist wichtig, denn ich darf auf keinen Fall den schmalen Durchgang zwischen den Sitzreihen durch meine Glieder einschränken.
Immer wieder kommen verschieden große Gruppen von Mitarbeitern in einem undurchschaubaren, aber sinnvollen Rhythmus an uns vorbei. Sie tragen oft große, schwer aussehende Kartons mit aufwendigen Beschriftungen darauf. Manche tragen auch nur einen Brief, natürlich noch geschlossen und ganz ohne Beschriftung. Das will nichts heißen. Doch es wäre katastrophal, sie auf ihren Botengängen durch Dummheit oder unseriöses Verhalten zu behindern. Niemand kennt die noch vor ihnen liegenden Wege, doch allen ist die Wichtigkeit der betriebsinternen Kommunikation bewusst. Jedenfalls kann ich mir nicht leisten, die empfohlene Körperhaltung im bewerbergerechten Plastikschalenstuhl zu variieren. Denn ich stehe noch ganz am Anfang und weiß nichts.
...
Soundtrack zum Text
Arcade Fire: Suburban Wars
Sigur Ros: Glosoli
Peter Licht: Wir sind jung und machen uns Sorgen über den Arbeitsplatz
Dabei heißt eine Verlegung erstmal gar nichts. Es kann auch ein Zurückstufen statt eines Hochstufens bedeuten. Es soll ja schon Bewerber gegeben haben, die in einen der letzten Wartebereiche versetzt wurden, nur um dann abgelehnt zu werden. Eine Geschichte, um Kindern Angst zu machen. In den letzten Wartebereichen soll es keine Sitzschalen mehr geben, ja nicht einmal Teppichboden, stattdessen dient der Körper des Bewerbers als Sitz- und Schreibunterlage für Mitarbeiter. Wir alle lachen über diese Fantasien alberner Mitbewerber. Aber obwohl es niemand sagt, kann man es doch hören: Es ist ein Lachen gegen die Angst.
Aus der Jurydiskussion:
"Der Text sticht aus vielen heraus, auch, weil er nicht realistisch erzählt wird, sondern ein fantastisches Setting hat. Er hat eine sehr gute Ironie – es geht um die Generation Praktikum und man muss alles tun für den Job und muss sich ganz und gar aufgeben usw. und das ist gekoppelt mit einem 1984-mäßigen repressiven Ding, was gar nicht der Fall ist. Der Imperativ heutzutage ist „sei außergewöhnlich, sei du selbst’ und nicht ‚füg dich in die Masse ein’". (...)
Etwas anderes. Eine Bewerbung auszubauen zeitlich, dass das eine lange Sache ist. (...)
Mit den Persönlichkeiten, dass man heute individuell sein muss, das weiß ich nicht, ob das so ist. (...) Volontäre und Praktikanten sind mit den Jahren immer stiller und duckmäuserischer geworden, weil die Chancen immer geringer wurden, und sie immer versucht haben angepasst zu sein, und keiner sich mehr was getraut hat, sondern nur den Regeln entsprechen wollten. Und das ist in diesem Text sehr eindrucksvoll und fantasievoll ausgearbeitet. Das ist auch sprachlich gut – für mich ist das ein sehr guter Text. (...)
Ein zeitgemäßes Thema. (...)
Total mutig, ein völlig anderes Thema, der einzig – sagen wir mal - politische Text.
Vom Inhalt her ganz, ganz, ganz eigenständig.
Endlich mal nicht Berlin oder Haas, sondern Kafka.“
Radio FM4
Wortlaut feiert
Wortlaut 10 - Der FM4 Literaturwettbewerb
mit freundlicher Unterstützung von
DER STANDARD
Alle Infos auf fm4.orf.at/wortlaut.
Am Freitag, 24. September werden Viktor Gallandi, Nikola Schnell und Valerie Katrin G. Fritschaus im Wiener phil aus ihren Gewinnertexten lesen. Da wird auch erstmals das Wortlautbuch präsentiert, das im Luftschacht Verlag erschienen ist.
Heinz Reich legt Musik auf. Das eine oder andere Jurymitglied wird mit dabei sein, ebenso einige der sieben AutorInnen, die ebenfalls im Wortlautbuch vertreten sind, Freundinnen und Freunde und sonst noch einige nette Menschen. Wir freuen uns auf das Wortlaut Finale.
Am Freitag, 24. September ab 20 Uhr
im phil in der Gumpendorferstraße 10-12
Und zum Nachlesen hier oder im Wortlaut-Buch, das bei Luftschacht erscheinen wird und ab Montag, 27. September, im Handel ist - auch im FM4-Shop - oder in gekürzter Form am Samstag, 25. September im Album von DER STANDARD und auch in der nächsten Ausgabe der Literaturzeitung Volltext.