Erstellt am: 23. 9. 2010 - 20:02 Uhr
Wortlaut 10: Platz 1 - der Text
"etlichen (...) gehet, wann sie also under den andern im
gedreng auf dem wagen sitzen, die seel aus, ehe sein
die andern gewahr werden. KIRCHHOF mil. disc. 118"
Grimmsches Wörterbuch
Das Bewerbungsverfahren läuft. Ich sitze auch nach Stunden noch mit geradem Rücken in dem Plastikschalenstuhl, der zwar ergonomisch gut entworfen, aber wohl für kleinere Leute gemacht ist. Die Beine habe ich, so weit wie es geht, angezogen. Die Füße sind unterhalb des Metallgestells übereinandergeschlagen.
Haltung ist wichtig, denn ich darf auf keinen Fall den schmalen Durchgang zwischen den Sitzreihen durch meine Glieder einschränken.
Immer wieder kommen verschieden große Gruppen von Mitarbeitern in einem undurchschaubaren, aber sinnvollen Rhythmus an uns vorbei. Sie tragen oft große, schwer aussehende Kartons mit aufwendigen Beschriftungen darauf. Manche tragen auch nur einen Brief, natürlich noch geschlossen und ganz ohne Beschriftung. Das will nichts heißen. Doch es wäre katastrophal, sie auf ihren Botengängen durch Dummheit oder unseriöses Verhalten zu behindern. Niemand kennt die noch vor ihnen liegenden Wege, doch allen ist die Wichtigkeit der betriebsinternen Kommunikation bewusst. Jedenfalls kann ich mir nicht leisten, die empfohlene Körperhaltung im bewerbergerechten Plastikschalenstuhl zu variieren. Denn ich stehe noch ganz am Anfang und weiß nichts.
Mein Stuhlnachbar Max dagegen hat selbst einmal gesehen, wie ein Bewerber vor seinen Augen von der Personalabteilung eingestellt wurde. Die Bedeutung dieses Augenblicks ist ihm erst später klar geworden, damals war er ja noch ein Kind. Er hat mir schon oft erzählt, wie er dem Bewerber, der ja in diesem Augenblick auf unbegreifliche Weise schon ein Mitarbeiter war, hinterherrennen und gratulieren wollte. Leichtsinnig ist er auf die rote Linie, die den Wartebereich umgrenzt, zugelaufen, hätte sie, nicht auszudenken, einfach übertreten, wäre nicht seine Mutter, eine vorausschauende Frau, sofort bei ihm gewesen und hätte sie ihn nicht im Laufen noch vom Boden gehoben und zu den Warteplätzen zurückgetragen.
Heute ist mein Mitbewerber Max ein vielgeprüfter Mann, der schon oft weiter war als ich, der schon unvorstellbare Prüfungen geschrieben, unglaubliche Gespräche geführt hat. Und der jetzt trotz allem im selben Wartebereich sitzt wie ich. Oft lachen wir beide darüber, lachen minutenlang. Er ist stark, sagt meine Mutter. Er kann noch lachen, aber er lacht lautlos. Sein langer, gebeugter Rücken zuckt heftig bei jedem Lacher und sein großer Kopf mit den schon lichten, wirren Locken geht dabei auf und ab, als würde er nicken, wie um sich selbst von der Komik seiner Situation zu überzeugen.
Heute ist ein guter Tag. Am frühen Morgen kam meine Mutter aus dem Fahrstuhl, ging vorsichtig in unseren Wartebereich und klopfte leise an meine Sitzschale, um mich zu wecken. Dann gab sie mir eilig ein kleines Päckchen, küsste mich auf die verschlafenen Augen und ging zurück zur Fahrstuhltür, um den Abwärtspfeil zu drücken.

FM4
Es war Münzgeld, sorgfältig eingewickelt in Toilettenpapier, genug für zwei, drei Tage. Ich wartete bis Max erwacht war und dann gingen wir, als Erste von unserem Wartebereich, zu den in der Nacht frisch bestückten Snackautomaten. Die bis in die letzte Windung vollgepackten Spiralen glänzten in der gelben Automatenbeleuchtung. Im stillen, morgendlichen Gang hörte ich Max’ Magen laut grummeln und weil alles so verlockend aussah und die vielen Münzen schwer in meiner Hand lagen, gönnten wir uns zwei Packungen Haselnusswaffeln, eine Zwischendurchtüte Chips und zwei Päckchen Vanillemilch. Münze für Münze schob ich in den Schlitz, bis auf dem Bildschirm jene Summe erschien, die Max vorher berechnet hatte, alle Preise unseres reichhaltigen Frühstücks addiert. Dann tippte ich langsam die 26 ein, wobei Max und ich unwillkürlich „zwei, sechs“ laut mitsprachen, und die erste Packung Haselnusswaffeln wurde von der sich drehenden Spirale freigegeben und fiel polternd in den Spalt. Max hielt die schwere Klappe auf und ich griff hinein um die eckige Packung herauszuziehen, denn war man allein, klemmte man sich in der Klappe regelmäßig das Handgelenk ein. Bei unseren Sitzschalen wieder angekommen, aßen wir langsam die Waffeln und tranken die Milch und waren bemüht, nicht zu laut mit den Tüten zu knistern und die krossen Waffeln nicht zu lautstark zu kauen, denn der ganze Wartebereich schien noch in tiefem Schlaf.
Max schläft mittlerweile wieder. Das viele Schlafen hat er sich über die Jahre angewöhnt. Schlafen ist besser als warten, sagt er mir oft. Und wenn du aufgerufen wirst?, habe ich einmal gefragt. Bevor der Aufruf kommt, bin ich schon wach, irgendwann hat man das im Blut.
Ich traue mich noch nicht zu schlafen während der Wartezeit. Auch die meisten der Mitbewerber in unserem Bereich sitzen aufrecht da, schauen ständig den Gang rauf und runter, als könne man einen wirklichen Aufruf durch Beobachtung der Betriebsvorgänge vorhersehen. Viele sind erst seit ein paar Wochen hier und die Euphorie, die eine Verlegung in einen neuen Wartebereich auslöst, wirkt noch nach. Dabei heißt eine Verlegung erstmal gar nichts. Es kann auch ein Zurückstufen statt eines Hochstufens bedeuten. Es soll ja schon Bewerber gegeben haben, die in einen der letzten Wartebereiche versetzt wurden, nur um dann abgelehnt zu werden. Eine Geschichte, um Kindern Angst zu machen. In den letzten Wartebereichen soll es keine Sitzschalen mehr geben, ja nicht einmal Teppichboden, stattdessen dient der Körper des Bewerbers als Sitz- und Schreibunterlage für Mitarbeiter. Wir alle lachen über diese Fantasien alberner Mitbewerber. Aber obwohl es niemand sagt, kann man es doch hören: Es ist ein Lachen gegen die Angst. Denn wer weiß schon von diesen fernen Bereichen, wer könnte schon all die skurrilen Geschichten mit kühlen Fakten entkräften, egal wie unwahrscheinlich sie klingen mögen.
Der Tag will wieder einmal nicht vergehen. Max schläft seelenruhig, meistens ist er innerhalb von 24 Stunden nur drei bis vier Stunden wach. Ich habe mich schon einmal bei ihm beschwert, dass ich mich ohne ihn langweile, aber er hat gelächelt und sagte, er könne keinesfalls länger wach bleiben, schon drei Stunden würden ihm wie eine Ewigkeit vorkommen.
Ich sitze auf dem Teppichboden und fahre mit dem Finger die Spuren nach, die frühere Mitbewerber hier hinterlassen haben. Den Vormittag habe ich mit einem Bild verbracht, das dem Anschein nach ein Kind mithilfe von halb eingetrocknetem Kakao auf den Teppich gemalt hat. Es zeigt einen Mitarbeiter, der einen Haufen kleiner Bewerber von seiner übergroßen Hand purzeln lässt. Darunter steht in dicken Lettern, aus der weichen Füllung von blauen Hustenbonbons (Automatennummer 13) geformt: „Die große Ablehnung“. Das Bild mit dem grotesken Schriftzug befindet sich direkt unter meiner Sitzschale. Ich versuche, beides mithilfe von Cola (es ist ein teurer Tag) zu lösen und herauszureiben. Die blaue Hustenbonbonmasse klebt zwar fest in den Teppichfasern, doch löst sie sich langsam ab, wenn man nur genug Cola dazureibt. Aber die Kakaospuren bleiben. Ich werde weiter über „der großen Ablehnung“ sitzen müssen. Ich versuche, nicht weiter darüber nachzudenken.

luftschacht
Wortlaut 10. ausgehen
Der FM4 Literaturwettbewerb. Die besten Texte.
Mit einem Vorwort von Stefan Slupetzky. Luftschacht 2010
Hey!, eine Mitbewerberin von der Sitzreihe gegenüber hat mich angestoßen. Ich schaue mich um. Gerade noch rechtzeitig sehe ich, wie eine Gruppe Mitarbeiter von den Automaten her auf uns zukommt. Sofort sitze ich wieder in meiner Sitzschale und ziehe die Beine an. Mit schnellen Schritten gehen sie zwischen den spitzen Knien der Bewerber hindurch. Die meisten tragen Unterlagen, doch einige, die beiden letzten, tragen gar nichts. Das habe ich noch nie gesehen. Wozu verlassen sie überhaupt ihr Büro? Was bedeutet das für uns? Und hat die eine Mitarbeiterin nicht leicht zu uns herabgeschielt? Wollen sie unser Warteverhalten überprüfen, ist da etwas zweifelhaft? Ist unser Warten verdächtig? Was sieht ein Mitarbeiter in der Sekunde des Vorbeigehens, alles könnte es sein und nichts, niemand weiß es. Vielleicht macht man sich auch gerade dadurch verdächtig, dass man vorbildlich kompakt in seinem Stuhl sitzt, als müsste man etwas verbergen. Meine Gedanken beginnen hektisch zu springen, ich überlege, Max zu wecken, der mich sicher beruhigen könnte, doch das wage ich nicht. Er ist ein alter Bewerber und hat kaum eine Hoffnung auf eine weitere Prüfung in seinem Leben, da sollte ich ihm wenigstens das qualvolle Warten ersparen. Aber was, wenn unser Verhalten während des Wartens einen Ausschlag für unsere Bewerbung gibt? Darüber darf ich mit niemandem reden, das ganze Leben in den Wartebereichen würde sofort zum Stillstand kommen. Alle würden in ihren Sitzschalen erstarren und das nur wegen dem Hirngespinst eines blauäugigen Jungbewerbers. Aber was, wenn es stimmt? Wenn die Bewerbung nicht in Schritten erfolgt, sondern ein Prozess ist, wenn das Warten Teil einer ständigen Prüfungssituation ist?
Ich versuche, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen, lächle die Mitbewerberin, die mich gewarnt hat, dankbar an und nicke ihr zu. Plötzlich lacht sie und ich schaue mich erschrocken um, ob nicht noch ein Mitarbeiter in der Nähe ist, der sie hören könnte. Aber die Mitarbeiter sind schon unerklärlich weit entfernt, kaum sehe ich ihre wiegenden Schatten in der fernen Zuspitzung des Ganges. Sie lacht immer noch und ich sehe, wie jung sie ist. Oft sieht man Bewerberinnen während des Wartens ihr Alter ja nicht an, und in anderen Situationen habe ich noch nie eine gesehen. Sie hat eine spitze Nase und einen großen Mund. Mit ihren kleinen Händen umgreift sie den vorderen Rand der Sitzschale und wiegt beim Lachen ein wenig auf und ab. Natürlich trägt sie eine weiße Bluse und Perlenschmuck. Doch statt der üblichen schwarzen Hose, die zu einem Kostüm gehört, oder dem einfarbigen, meist dunklen und knielangen Rock, trägt sie einen weiten, schwarzen und seltsam schimmernden, der ihr bis zu den Knöcheln geht und wilde Falten wirft.
Wie dumm das ist. Was ist der Drang nach Abgrenzung und Aufmerksamkeit schon wert, wenn man damit vielleicht einen Mitarbeiter verärgert und sich die Chance auf ein Prüfungsgespräch verbaut? Trotzdem mag ich ihren Rock, und obwohl ich ihr raten werde, ihn möglichst bald abzulegen und sich professionell und seriös zu kleiden, würde ich mir den Rock gerne unter meine Sitzschale legen und hin und wieder hervorholen, um mir den glänzenden Stoff anzuschauen.
Wir lächeln uns an. Schauen aber hin und wieder, dass kein anderer Mitbewerber uns sieht. Glücklicherweise achtet niemand auf uns. Viele schlafen, einige kauen langsam an ihrem Schokoriegel und wieder andere sitzen einfach nur mit übereinandergeschlagenen Beinen da, so, als ob sie beim Arzt zehn Minuten warten müssten und keine Lust hätten zu lesen. Wir setzen uns zusammen auf den Teppich neben ihrer Sitzschale. Fast liegen wir schon nebeneinander unter der Sitzreihe, da hören wir das leise Tappen von Halbschuhen auf dem Teppich, für das unsere Ohren schon so geschärft sind. Sofort flüchte ich auf meine Sitzschale zurück. Ein einzelner Mitarbeiter kommt näher, ohne Akten. Als er an mir vorbeigeht, trifft mich von oben sein Blick. Ich spüre, wie dieser Blick mich durchdringt, all die Faulheit und Unfähigkeit hinter der billigen Maske des Ehrgeizes entdeckt, meine allzu frühe Karrieremüdigkeit mir an meinen Augen abliest und meine Prüfungsuntauglichkeit in der kleinen Datei über mich einträgt. Ich verfluche innerlich die lächerliche Mitbewerberin mit ihrem Individualrock, die mich all meine Haltung hat vergessen lassen, all die professionelle Geduld eines potenziellen Prüflings. Der Mitarbeiter verschwindet natürlich in der Ferne des Ganges. Von da an ignoriere ich die Mitbewerberin, egal wie oft sie ihren Rock umlegt oder die Beine übereinanderschlägt.

Radio FM4
Mittlerweile ist ein weiteres Jahr vergangen. Max redet kaum noch, achtet nicht mehr auf die Vorgänge in unserem Wartebereich, schläft jetzt fast ausschließlich eingeklemmt zwischen den Sitzschalen und dem Teppichboden. Er begleitet mich nicht einmal mehr zu den Automaten, denn essen tut er kaum noch etwas, nur hin und wieder soll ich ihm einen Eistee mitbringen.
Der schweifende Blick mit heruntergezogenen Mundwinkeln traf uns das letzte Mal vor gut einem Monat. Der Mitarbeiter hatte eine seltsam verwaschene Gesichtshaut und kleine Augen, sein Blick ging ein paarmal die Reihen auf und ab, wobei seine Augen mehrmals zurückzuckten, als hätte er Angst, jemanden zu übersehen. Den Arm, mit dem er das Handy an sein Ohr presste, hielt er umständlich abgespreizt, und das blütenweiße Hemd spannte sich gefährlich am Ellenbogen. Es war ein schockierend formloser Mitarbeiter. Fast wie aus der Fassung geraten. Genau so sagte ich das Max. Denn ich wollte hören, was er dazu dachte. Das muss nichts heißen, sagte er mir. Das muss gar nichts heißen. Junge Leute wollen alles deuten, doch eigentlich erfinden sie ständig Zeichen, die sie irgendwann zum Überschnappen bringen, und ihre Bewerbungschancen sind vertan.
Ich fragte ihn, ob er schon mal einen Mitarbeiter in so einem Zustand gesehen habe. Er verneinte und ich fühlte mich unangenehm bestätigt. Ich sah, wie Max seinen alten Mund öffnete, um meine Bedenken auszuräumen und mich zu beruhigen, aber da schlief er schon wieder ein und ich blieb den Rest des Tages mit meinen kreisenden Gedanken allein.
Plötzlich knackt etwas in der Wand. Eine Stimme ertönt, sie kommt aus einem kleinen, quadratischen Lautsprecher, der über meinem Kopf in die Wand eingelassen ist. Die Stimme buchstabiert meinen Namen und sagt, ich solle rechterhand den Wartebereich verlassen und die erste Tür links nehmen. Ich gehe los und schaue mich nochmal nach Max um. Die Stimme hat ihn nicht geweckt und ich habe keine Zeit mehr.
Wortlaut 10 - Der FM4 Literaturwettbewerb
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Die Stimme führt mich durch breite Gänge oder längliche Zimmer, schwer zu sagen. Ich öffne Türen und schließe sie wieder, ich begegne niemandem mehr. Die Beleuchtung wird sparsamer und neben mir beginnt mein unschöner, großer Schatten zu fließen. Der Teppichboden ist sauber, ohne blasse Stellen oder Verfilzungen. Seine Farbe ist noch so sauber wie unter den Töpfen der Gummibäume neben den Snack-Automaten. Ich verliere die Orientierung und durch die vollkommene Stille um mich hört sich das Tappen meiner Schuhe auf dem Teppichboden unglaublich laut an. Die Stimme sagt mir, ich solle die Tür am Ende des Ganges öffnen und in den Raum gehen, der sich dahinter befindet, dort soll ich mich setzen und abwarten. Es knackt wieder und die Stimme verschwindet.
Meinen Lungen scheinen zu klein zu sein, ich atme flach und meine Schultern verkrampfen sich. Mit kurzen Schritten komme ich bei der Tür an. Ich spüre die saubere, kühle Glätte der Türklinke. Ich drücke sie hinunter und lasse die Tür aufschwingen. Dann gehe ich hinein. Der Raum ist groß und leer. Eine Halle fast, zur Hälfte mit Stuhlreihen bestückt. Ich setze mich in die vorderste Reihe, was ich sonst nie tun würde, denn es könnte aufdringlich wirken, doch um in die zweite Reihe zu kommen, hätte ich umständlich über die erste hinüberklettern müssen, denn man hat keinen Mittelgang freigelassen. Umständlichkeit aber ist ein K.o.-Kriterium bei der Bewerbung.
Eine Weile passiert nichts. Ich sitze aufrecht, in meinen Kniekehlen jeweils ein rechter Winkel, die Handflächen, unangenehm schwitzend, liegen auf den Oberschenkeln auf, leicht zitternd, zum Glück kaum sichtbar. Dann geht das Licht aus und ich sitze kurz in völliger Dunkelheit, meine Atmung pumpt wie von selbst und wenn ich versuche, sie ruhig zu halten, entsteht ein pressender Druck in meinem Brustkorb. Ein stechend strahlendes Lichtbündel wird von einem Projektor an der Decke auf die mir gegenüberliegende weiße Wand geworfen. Das Bild füllt die ganze Fläche aus. Ich versuche hinzuschauen, ohne zu blinzeln, aber der helle Fleck unten in der Mitte, umgeben von Schwarz, verschwimmt von den Tränen, die mir durch die Blendung in die Augen steigen. Es geht nicht anders, ich muss mit den Ärmeln darüberwischen, so unprofessionell das aussehen mag. Als ich aufschaue, sehe ich mich. Erst halte ich es für Einbildung, dann für einen Fehler, aber das Bild verändert sich nicht. Als ich kurz den Kopf wende, um zu sehen, ob jemand vielleicht unbemerkt eingetreten ist, den ich jetzt unhöflicherweise ignorieren könnte, huscht etwas in meinen Augenwinkeln. Ich merke, dass der sitzende Mensch auf dem Bild sich mit mir bewegt. Anscheinend werde ich gefilmt und die Aufnahme zeitgleich auf die Leinwand vor mir projiziert. Warum bloß? Ich sehe meinem Film-Ich den schweren Atem an. Ich bemerke, wie ich schwitze. Überhaupt die Flecken auf meinem Hemd. Ich sehe meine steife Haltung, die eines Kindes. Die rötlichen Flecken in meinem Gesicht. Fast muss ich lachen, so unbeholfen wirkt der junge Mann dort, verloren und eitel zugleich in der vordersten Sitzreihe in einem Raum, der viel zu groß für ihn ist. Eine Zumutung, denke ich und hoffe, dass sie die Projektion bald beenden und das Video löschen. Und als hätte ich selbst den Knopf gedrückt, geht das Licht aus. Alles ist schwarz, nur die grell pulsierenden, schimmernden Flecken auf der Netzhaut gleiten durch mein Blickfeld. Der Umriss meiner eigenen Gestalt in einem grellen Gelb. Die Stimme sagt mir, dass ich den Raum durch die Tür links von mir verlassen soll. Ich drehe den Kopf in der Leere. Ein grüner Fleck taucht in meinem Sichtfeld auf. Darauf in weiß abgesetzt: eine Tür, ein Abwärtspfeil und ein rennendes Strichmännchen. Ich spüre den Boden unter meinen Schritten und nähere mich dem grünen Leuchten. Ich ertaste in der Schwärze das Metall der Tür, ertaste die runde, glatte Plastikklinke. Ich drücke sie hinunter. Die Tür ist verschlossen.