Erstellt am: 17. 9. 2010 - 06:06 Uhr
Tornado über New York
Christian Lehner
Das kann nicht gesund sein: Innerhalb weniger Augenblicke wechselt der Tag seine Farben von Normallochrom in Schwefelgelb, Giftgrün und schließlich Tiefgrau. Die Bäume vor dem Fenster werden nervös. Da fährt eine gewaltige Windfaust durch die Straße. Instinktiv trete ich einen Schritt vom Fenster zurück. Ein Regenblock kracht auf die Grand Avenue. Die Autokarawane der Rush Hour verschwindet in der grauen Gischt. Dann die Geschosse hinten beim Gartenfenster. Peng! Peng! Hagel! Nur ganz kurz, vielleicht 10 Sekunden lang, fallen daumennagelgroße Eiskugeln vom Himmel. Die ersten Blitze zucken, kein Donner, nur ein Heulen. Als würden die Bäume schreien. Wieder beim Fenster zur Straße sehe ich zwei Kids lachend durch den Sturm hüpfen als wäre nichts. Wie machen die das? Ich zerre das Fenster auf und brülle Warnungen. Sie können mich nicht hören und verschwinden tanzend im Grau. Der Regen drückt durchs Mosquito-Gitter. Eine Mülltonne fliegt bei einem SUV vorbei. WTF?
Christian Lehner
Nach fünf Minuten ist alles vorbei. Völlige Windstille. Kein Blatt rührt sich mehr. Keine Alarmanlage kreischt. Kein Singnalhorn jault. Clinton Hill schweigt. 15 Minuten später die ersten Bilder auf NY1. Wetteraufnahmen. Der Tornado hat einen Haken nach Queens geschlagen und erschöpft sich gerade irgendwo im Landesinneren. It’s over, aber bitte passen Sie auf.
Christian Lehner
Draußen ist es schwül. Es riecht nach Benzin. Die ersten Menschen wagen sich aus den Autos und Häusern. Nichts zu sehen von den beiden Kids. What was THAT!? Bange Blicke auf die von Zweigen und Müll übersäte Straße. Bange Blicke hinauf zu den gerupften Baumkronen. Bange Blicke auf die Smartphones. Ampeln sind verdreht, einzelne Straßenlichter abgerissen. Kabeln baumeln von den Masten, aber die Netzverbindung steht noch. Erste Nachrichten an Freunde und Verwandte werden getippt, Tweets gecheckt, Gerüchte ausgetauscht. Drei Blocks weiter auf der Washington Avenue hätte ein Blitz einen Baum gefällt. Dieser wiederum hätte mehrere Autos unter sich begraben und würde die ganze Straße blockieren. Beim St. James Place stünden gar nur noch die Hälfte aller Blattträger.
Christian Lehner
Schon laufen die ersten Fotografen durch die Neighborhood. Ich bin einer von ihnen. Aus der U-Bahn Kommende wirken geschockt oder völlig unbeteiligt. An der Washington Avenue präsentiert sich die Stadt dann tatsächlich wie von der Natur zurückerobert. Ein junger Polizist versucht vergeblich ein paar Kinder aus der Krone des gefallenen Baums zu verjagen. Der Jeep darunter wirkt ziemlich zerschlagen. Väter lachen. Familienausflug und Fotosafari. Am Ende diskutieren Experten im Fernsehen, ob dieser Wetter-Bully nun als Tornado oder bloß als Sturm zu qualifizieren wäre. Bis zum Abfassen dieser Geschichte hat er eine menschliche Seele, dutzende Dächer und Autos sowie hunderte Bäume geholt. There has never been a storm like this before in New York, sagt eine ältere Nachbarin. Doch. 2007. Aber daran kann sich niemand mehr erinnern.