Erstellt am: 16. 9. 2010 - 03:11 Uhr
Bloody Flying Circus
Oscar Méténier haben wir es zu verdanken, dass der Naturalismus mit all seinen grausamen Facetten Einzug in die Performancekunst der Moderne gehalten hat. Nicht zuletzt der Horrorfilm hat die häufig melodramatischen und überhöhten Darstellungen vom Theater des Grauens übernommen. Dort wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts die blutigen Öffnungen des Körpers, das gewaltsame Aufbrechen des Fleisches, Vergewaltigungen, Mord, Geister und Krankheiten auf die Bühne gebracht. Was früher das Grand Guignol-Theater war, ist heute das FM4 Überraschungskonzert und Bonaparte sind würdige Nachfolger dieser legendären Horror-Inszenierung.
Das Salzburger Rockhouse ist ein ähnlich hohes Risiko eingegangen, wie das Pariser Théâtre du Grand-Guignol anno 1894. Denn bei der Inszenierung, die Bonaparte bei ihren Live-Shows liefern, weiß man nie was passieren wird. Sie ist aber kein Chaos: Inszenierung verlangt Planung, Bewegung, Aufrütteln des Publikums. Schon vor dem Konzert gibt es dazu Gelegenheit: Eine voll kostümierte Marching Band spielt im Foyer auf, während draußen noch die begehrten Eintrittsbänder verteilt werden.
Boycott Everything
Nun ist es so, dass Tobias Jundt und seine Wandertruppe, die aus unzähligen Menschen aus aller Welt besteht, ein medial geprägter Ruf nacheilt. Ein Zirkus sei sie. Eine Chaos-Truppe. Dann wieder eine Armee, die von ihrem kleinen selbsternannten Kaiser Jundt kostümiert und arrangiert wird. Schon Napoleons Armeen sollen im Kampf ihre Gegner vor allem durch ihre Uniformen verwirrt haben. Ihre Feinde dachten wegen der bunten Kostümierung, es sei Karneval. Im Interview erklärt der Schweizer Tobias, dass mediale Prägung oft Realität wird, solange man nur lang genug davon redet. I boycott everything that’s not made by my hands.
Seit diesem Auftritt, den Jundt übrigens als den Schönsten in 2010 bezeichnet, denke ich anders. Das vorgespielte Chaos auf der Bühne ist nämlich keines. Es ist eine durchwegs durchdachte Inszenierung, eine Geschichte, wie sie Shakespeare geliebt hätte. Eine Fabel, in der sich Tod und Pferd umarmen, in der Clowns vor ihrem Publikum niederknien und ein König sein Herz einer nackten Nymphe schenkt.
Christian Stiegler
Die Handlung dieser Tragikomödie, wie sie das voll besetzte und in Schweiß gebadete Salzburger Publikum erlebt, ist in ihrer Komplexität nur schwer zu erfassen. Jeder Song des Sets ist gleichzeitig mit einer neuen Performance-Beifügung verbunden. Es beginnt mit der schönen blauen Nymphe, die mit Pippi Langstrumpf-Strümpfen auf einer Badewanne sitzt, aus der später ein in roten Lack gekleidetes Fabelwesen im Stil der Ermordung von Jean Paul Marat entsteigen wird.
Dann tritt der Kaiser Tobias Jundt selbst auf. Zuerst verkleidet als Leatherface, dann mit einem Kartoffelsack als Maske wie der kleine Tomás aus "The Orphanage", später als süßer Werwolf mit Braunauge. Die Verweise sind überall verstreut. Jundt bleibt trotz langsamer Freilegung seines Gesichtes die Hauptperson der Inszenierung, in der mit Fortdauer neue Charaktere auf- und wieder abtreten.
Christian Stiegler
Christian Stiegler
This Stage is a Battlefield
Die Inszenierung mit Masken ist ja nichts Neues, schon gar nicht popkulturell. Schon Peter Gabriel hat sich zu Genesis-Zeiten auf der Bühne gern als Fuchs verkleidet. Bei Bonaparte bekommen diese Charaktere aber einen wichtigeren Stellenwert, fast mehr als die Musik. Während in Songs wie "Fly A Plane Into Me" mit düsteren 9/11-Szenarien kokettiert wird und gleichzeitig scherzhaft gerätselt wird, wie man MGMT buchstabiert, tritt auf der Bühne der Tod auf, der ein Pferd und dann eine Person mit Gasmaske umarmt. Er, der uns alle holen wird, eingehüllt in Nebel, dazwischen als figurale Metapher ein in Klebeband eingeschnürtes Subjekt mit roten Lippen. My horse likes you, but my horse goes berserk.
Christian Stiegler
Christian Stiegler
Überraschungen, die schon waren
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Nach 26 (!) Stücken, über 100 Minuten, einer Setlist mit Songs wie "Computer in Love", "Wir sind keine Menschen" oder das herrlich swingende "Rave Rave Rave", habe ich die Geschichte dieser Inszenierung zwar nicht verstanden, aber es lässt mich nicht los, dass es eine zutiefst traurige ist. Mit Zuckerbrot und Peitsche haben Tobias Jundt und seine tollen Performance-KünstlerInnen diesen Abend gestaltet: Der Tod und ein Baby mit übergroßem Kopf treten auf, dann werden Süßigkeiten und Croissants ans Publikum verteilt, Champagnerflaschen wild geköpft und in die Masse geschüttet, während ein Clown einen maskierten Radfahrer vor dem Sturz in den Fotograben bewahrt. Und dann tritt ein Herzog auf, dessen Herz ausblutet, als er es an seine Angebetete weitergibt. Dazwischen wird mit einem Kürbis das Ende von Halloween eingeläutet. Großes Theater.
Was von diesem einmaligen FM4 Überraschungskonzert bleibt, ist nicht unbedingt die Musik. Es sind die gewaltigen kleinen Bilder bei jedem Song, die ihre eigene Geschichte erzählen. Und eine Menge Müll: Glitter, falsches Blut, angebissene Äpfel und getragene Perücken. Aber auch für diesen Fall hat Tobias Jundt vorgesorgt: Seine Inszenierung beinhaltet auch ein Stubenmädchen, das alles wieder aufwischt. L'Etat C'est Moi.
Christian Stiegler
Die Setlist vom FM4 Überraschungskonzert mit Bonaparte:
artist | song | |
---|---|---|
Bonaparte | Intro | |
Bonaparte | Do You Want To Party | |
Bonaparte | Tu Me Molas | |
Bonaparte | WRYGDWYLIFE | |
Bonaparte | Anti Anti | |
Bonaparte | Ego | |
Bonaparte | L'Etat C'est Moi | |
Bonaparte | Boycott Everything | |
Bonaparte | My Horse Likes You | |
Bonaparte | Aaah | |
Bonaparte | Fly A Plane Into Me | |
Bonaparte | Adabmal | |
Bonaparte | Rave Rave Rave | |
Bonaparte | Wir sind keine Menschen | |
Bonaparte | Computer In Love | |
Bonaparte | My Body Is A Battlefield | |
Bonaparte | Technologija | |
Bonaparte | I Can't Dance | |
Bonaparte | Blow It Up | |
Bonaparte | Killing Time | |
Bonaparte | Who Took The Pill | |
Bonaparte | Too Much | |
Bonaparte | No I'm Not Against It! | |
Bonaparte | LVDNGRSLVNGKLS | |
Bonaparte | Gigolo Vagabundo | |
Bonaparte | Bienvenido / 3 Minutes |