Erstellt am: 11. 9. 2010 - 16:43 Uhr
Fußball-Journal '10-53.
Meisterschaft und Cup, das "europäische Geschäft", das Nationalteam, der Nachwuchs, aber vor allem auch das hiesige Medienverhalten und die Wahnsinnigkeiten im Umfeld: das Fußball-Journal '10 begleitet die Saison mit ungeschöntem Blick.
Heute mit einem Besuch in der 1. Liga, der zweiten Leistungsstufe, beim Freitag-Abend-Match Vienna gegen Austria Lustenau.
Nichts gegen jene, die sich mit dem genauen Zusehen bei Länderspielen, Europacup-Partien oder Highlights wie Derbies begnügen. Aber: die Wahrheit liegt auf dem Platz, und zwar meist auf dem kleinen.
Denn es ist die zweite Reihe, die Aussagekräftiges über den Zustand des österreichischen Fußballs preisgibt. Weil sich dort wesentlich deutlicher widerspiegelt, was bei den einzelnen wenigen Größeren, den Teams, die international andocken wollen, abgeht. Ganz ohne die Ablenkung durch einzelne Klassespieler oder großes mediales Gebluffe.
Insofern war der Besuch des Premieren-Auftritts von Alfred Tatar bei der Vienna, gestern abend im Spiel gegen Austria Lustenau, erhellend. Und ernüchternd.
Kurz zur Vorgeschichte. Tatar, einer der wenigen, die Begriffe wie Philisophie, Vision, Taktik, Strategie und System nicht nur aus Wörterbüchern, die sie nicht verstehen, kennt, hat Frenk Schinkels abgelöst. Schinkels wiederum ist fast sowas wie das Synonym des Blendertums; ein Populist, der sich das Elend der Boulevard-Medien zueigen macht, und sich vor allem bei Clubs mit ahnungsloser Geschäftsführung (Stronachs Austria, Haiders Kärnten) wohlfühlt. Man kann also von einem Paradigmen-Wechsel sprechen; von einem, der große Teile des Vienna-Anhangs durchaus zufriedenstellt.
Ein einzelner Trainer ist kein Wunderheiler
Nun kann ein neuer Trainer nicht innerhalb kurzer Zeit Wunder bewirken. Schon gar nicht mit einer Mannschaft wie der Vienna, die von ihrem Potenzial eindeutig zur hinteren Hälfte des Vereins-Feldes der 1. Liga, also der zweiten Leistungsstufe, gehört. Und schon gar nicht gegen die Austria Lustenau, die diesbezüglich eine klare Klasse mehr hat.
Aber darum soll es jetzt gar nicht gehen.
Denn, und das war nach fünf Minuten des Spiels bereits deutlich sichtbar: beide Mannschaften präsentierten, ganz freiwillig, sehr exemplarisch das aktuell zentrale Unvermögen der österreichischen Fußballs. Sie zeigten nämlich beide ausführlich das, was auch das ÖFB-Team, die Nationalmannschaft so auszeichnet: ihre Unfähigkeit, ein Fußball-Spiel aufzuziehen, ihr nicht vorhandenes Können, ein solides Angriffs-Spiel zu inszenieren.
Denn, genauso wie am Dienstag bei Österreich gegen Kasachstan, standen einander zwei Teams gegenüber die nur das Konterspiel beherrschen. Eigenständiges, aktives Handeln - Fehlanzeige.
Das steht nicht auf dem Plan; das steht seit Jahren nicht mehr auf dem Plan, vor allem bei den Vereinen der zweiten Reihe ist das ganz deutlich sichtbar.
Österreichs Fußball fehlt der Gestaltungs-Wille
Letztlich ist es genau das, woran es krankt; beim ÖFB-Team, bei Salzburg, bei allen BL-Mannschaften (mit leichten Ausnahmen, manchmal bei Rapid, der Austria und Sturm, zuletzt auch bei Innsbruck und Ried).
Sie können allesamt das Spiel nicht aktiv gestalten.
Es fehlen alle Mittel, alle Tools, alle Kenntnisse.
Das hat zum einen mit der katastrophalen Coaching-Situation im Erwachsenen-Bereich zu tun. Alles Kreative, Positive und Gute, das die jungen Kicker im Nachwuchsbereich mitbekommen, wird ihnen nämlich rausgetrieben, vom ergebnisfixierten Kurzzeit-Bedenker, den Coaches der Profi-Teams; die auf mittelfristigen Aufbau soviel Wert legen wie Peter Pacult auf Manieren.
Das ist zum anderen aber auch auf (wieder einmal) einen missverstandenen internationalen Trend zurückzuführen. Seit Jahren bellt es aus allen Medien-Kanälen: die Zeit der Spielmacher ist vorbei.
Das stimmt auch; und es meint den klassischen Stehgeiger, den 10er, das von allen gefütterte Genie, das außer Ideen haben nix tun muss. Diese Zeiten, Diegito, sind vorbei, richtig.
Die neuen Spielmacher können mehr. Die Sneijders und Robbens und Riberys und Messis und Özils, die Xavis und Iniestas, die Robinhos, Kakas udn Forlans. Das sind verkappte 8er, halbe Flügel, hängende Spitzen, manchmal sogar halberte Sechser. Also keine Spielmacher, wie sie in den 80ern, als die aktuelle Trainer-Elite selber aktiv war, herumgelaufen sind.
Österreichs Teams können das Spiel nicht machen
Das hat das österreichische Trainerwesen aber nicht kapiert. Die haben nur den ersten Teil der Botschaft verstanden und bei der Vertiefung (wie so oft) schon geistig nasengebohrt. Man hat also nach "Spielmacher gibts keine mehr!" abgeschaltet und diese teilweise absichtlich falsch verstandene Botschaft dazu verwendet, alten Dreck oder alten Schrott aus den 70ern und 80ern und 90ern wieder aufzuwärmen: das verstärkte, primitive Defensivspiel (etwa eines mit "vier Innenverteidigern") oder die Doppel-Ketten-Taktik, wo dann zwei Viererketten zwar nach hinten abblocken aber nicht umschalten, geschweige denn nach vorne spielen können.
Unter anderem deswegen kann das aktuell kaum ein österreichisches Team: das Spiel selber gestalten, in die Hand nehmen. Gut, manchmal gelingt das einer wirklich klar überlegenen Mannschaft, daheim, gegen ein schwächeres Team (Rapid, Austria, Sturm). Sobald die aber auf einen ansatzweise ähnlich starken Gegner treffen, wird auch sofort alles vergessen. Und es wird nicht mehr gespielt, sondern maximal noch gekontert.
Mannschaften mit einem Trainerteam, dem alles ganz besonders egal ist (auch weil sie sich ihre Gedanken erst knapp vor einem Match machen), schaffen dann nicht einmal das - oder sind damit, wenn sie etwa auf einen schwächeren Gegner treffen, überfordert und nicht einmal ansatzweise gerüstet.
Die großen Lücken zwischen Defense und Offense
Der Normalfall ist aber das, was ich gestern abend gesehen habe: Zwei Mannschaften, die beide nicht das Spiel gestalten können, versuchen einander auszukontern. Bälle abfangen, weit auf die Flügel oder in den Angriff schlagen, wo dann was passiert.
Eben: Vienna gegen Austria Lustenau.
Bei der Vienna hat Tatar von der verknödelten Schinkels-Strategie mit einem 5-2-3 auf ein 4-4-2 umgestellt, mit Martinez in der Mittelfeld-Zentrale; etwa so weit hinten wie Kavlak am Dienstag. Sinnlos, wenn man das Spiel über diesen Mann machen will.
Edi Stöhr hatte es mit seiner Lustenauer Aufstellung gar nicht vor: sein etwas offensiverer aus der Doppel-Sechs, Mario Leitgeb, hatte den offensichtlichen Auftrag zur Verhaltenheit.
Bei den Vorarlbergern ging jeder nach vorne gespielte Ball auf die Flügel, wo dann der Deutsche Boller (ein Wusler mit unerhörtem Zug zum Tor und Talent zum letzten Pass) links und der Ex-U20-Teamspieler Micic rechts die Vienna-Abwehr aufrissen und ihre beiden Spitzen (Roth und Egharevba) suchten. Die Außenverteidiger sind, ebenso wie Leitgeb, nur alle heiligen Zeiten vorne erlaubt - das Lustenauer Spiel zerfällt, genau definiert in eine Defense (sechs Feldspieler & Tormann) und eine Offense (vier).
Mit modernem Fußballspiel oder gar aktiver Spielgestaltung hat das nichts zu tun - hingegen alles mit der österreichischen Realität.
Zerfasert, zerfahren, ohne Substanz
Die auch von der Heim-Mannschaft, der Vienna, gespiegelt wurde. Auch da agiert die Abwehr praktisch immer auf einer Höhe (vier Innenverteidiger quasi) - und weil da nix offensiv geht, erlaubt man es der gegnerischen Vier-Offensive auch, sich immer vorne festzuspielen. Auch bei der Vienna befindet sich zwischen den Defensiven (Tormann, Viererkette und die zwei Sechser) und den Offensiven ein riesenhaftes Loch, gibt es keine Übereinkunft zwischen Defense und Offense, kein gemeinsamer Spielgestaltungs-Plan.
Nur wenn Patrick Kienzl (gestern der deutlich beste) und Hosiner (über die Saison gesehen deutlich der Beste) über die Seiten kommen, entsteht etwas. Die Stürmer (Djokic und Topic, der zu spät, erst in der 30., für den nach ein paar Minuten verletzten Fading kommt) fallen nur bei Freistoß-Versuchen auf.
Auch hier: kein Versuch einer substanziellen Spielgestaltung, zerfahreres und zerfasertes Spiel.
Alles im übrigen Szenarien, die ziemlich genau dem entsprechen, was die Standard-Netzwerk-Analyse-Experten zum Länderspiel herausgefunden haben: Angriffe ohne Gestaltungs-Fähigkeit, oft aus dem Zufall heraus, in Fehler der Gegner hinein.
Was soll, kann, muss Alfred Tatars Rolle sein?
Gestern abend hab ich mir überlegt, ob ich von jemandem wie Alfred Tatar schon im ersten Spiel mehr erwarten hätte müssen. Etwa, dass er spätestens in der Halbzeitpause erkennt, dass er gegen ein an sich überlegendes Team keine Chance haben kann, wenn er dessen Taktik nur spiegelt, und nichts entgegensetzt. Denn auch als Philipp Hiba für Martinez kam, änderte sich (bis auf ein paar feine Technik-Einlagen Hibas) nichts Wesentliches.
Aber ein Blick auf den Vienna-Kader zeigt: es gibt da zuwenige, die gestalten könnten: Hiba, Martinez, Kienzl, Hosiner, vielleicht ein zurückgenommener Djokic - aber mehr Offensive hat die Vienna dann auch gar nicht.
Schinkels hat den Kader so katastrophal unrund zusammengestellt, dass kaum was anderes möglich ist.
Die Austria Lustenau könnte. Karatay, Micic, Vural, Krajic und vor allem Sidinei Oliveira könnten.
Nur: Wenn man sie nicht dafür ausrüstet, ausbildet und zu technisch höherwertigem, gestaltendem Spiel ermutigt, anregt, antreibt.
Tatars Experiment kann das wichtigste dieser Tage werden
Daran wird Alfred Tatar die nächsten Wochen und Monate zu messen sein. Denn er weiß als einer der wenigen (der von ihm gern gelobte Daxbacher wäre ein anderer...), dass sich nur mit einer Besinnung auf die Spielgestaltung die international verlorenen Meter aufholen lassen. Und er ist einer der noch wenigeren, vielleicht sogar der einzige, der das nicht nur sagt, sondern auch einfordert. Von anderen, aber auch von sich selbst.
Eine Erkenntnis, die für den "normalen" Austro-Trainer leider eine Denk-Stufe zu hoch oder zu weit weg ist.
Wenn Tatar das nicht schafft - und er hat brauchbare Bedingungen, ein gutes Grundklima - dann hat Österreich wohl auch insgesamt keine Chance. Keine Chance auf eine Besinnung auf Spielgestaltungswillen und keine Chance auf dem internationalem Markt.
Tatar spielt hier als pars pro toto eine wichtige Rolle.
Insofern ist dieses im Kleinen stattfindende Experiment rund um die Vienna fürs Große Ganze so interessant.