Erstellt am: 9. 9. 2010 - 17:00 Uhr
Stop Making Sense
Das Wetter ist schlecht, meine Laune auch.
Um präzise zu sein, es ist die Laune eines Menschen, der 14 Stunden auf einem Flughafenfußboden gelegen ist, weil das Flugzeug der Low-cost-Airline nicht aufgetaucht ist. Die Zeichen stehen auf hereinbrechende Herbstdepression durchsetzt mit Hassschüben gegen Low-cost-Airlines und so gar nicht auf Tanzen im Sonnenuntergang und Bootparties.
- Akustische Impressionen vom Stop Making Sense Festival am Donnerstag in der FM4 Homebase ab 19 Uhr und am Freitag in FM4 La Boum De Luxe kurz nach Mitternacht
Das Stop Making Sense Festival in Petrčane Kroatien ist das Ziel meines letzten Road Trips des Sommers 2010.
Petrčane ist ein kleines Dorf am Meer in der Nähe von Zadar. Der einzige Supermarkt ist 45 Quadratmeter groß und das Durchschnittsalter der Touristen um die 65. Außer ein von Großbritannien aus gesteuertes Festivalufo landet und Juan Atkins, Radioclit, Matias Aguayo, Carl Craig stellen sich mit den beige gekleideten Reisebustouristen um Semmeln beim Bäcker an.
Strandidylle und Sonnenwinken
Die Idylle ist perfekt. Menschen tanzen am Strand umgeben von einem Pinienwald, der Sonnenuntergang ist pink-orange und wunderbar harmonierend mit den Farben des 70er-Jahre-Discoareals. Das Festivalgelände liegt auf einer Landzunge und ist einer der schönsten Orte, um Parties zu feiern.
Manchmal wird mir die Euphorie ein bisschen zu viel und meine Ravekolleginnen erinnern mich an Teletubbies, zum Beispiel zu dem Zeitpunkt, als sie minutelang der untergehenden Sonne nachwinken.
Felix Fuchs
Das Stop Making Sense schlägt die Zelte in einem 70er-Jahre-Beachclub auf. Es gibt zwei Open Air-Floors, einer liegt direkt am Meer. Der Nachtclub des Geländes perfekt auf 70er Jahre designt, mit seiner runden Tanzfläche, der Lichtanlage, den Separées und orange-braunen Wandornamenten, als wäre er 2010 von einem Team Innenarchitekten auf Disco Bisquits gebaut worden. Nein, der Laden ist wirklich alt, erklärt mir mein neuer Freund David, ein Musikjournalist aus Ljubljana.
Derartige Disco-Dekadenz in Titos Jugoslawien hätte ich nicht erwartet. David kann gute Geschichten erzählen, wie seine Eltern Disco-Platten aus Triest schmuggelten, und schwärmt minutenlang enthusiastisch von der elektronischen Dissidenz von Borghesia.
Felix Fuchs
Zurück im Hier und Jetzt, bespielen Radioclit den Strand. Ihr DJ Pult besteht aus Palmenblättern und ihr MC turnt in türkisen Badeshorts und Perlenketten auf dem DJ Hochstand und diversen Bäumen herum.
Ich bin in einer Mischung aus Lost und MTV the Grind gelandet. Hinter uns eine hawaiianisch polynesische Tiki Bar. Radioclit spielen ihre in westlichen Metropolen erschaffene Version von Afro Pop und Tropicalia Tech. Wenn nur die Menschen aufhören könnten, der Sonne nachzuwinken, dann könnte auch ich anfangen, mich gehen zu lassen.
Animationsanlagen
Meinen Expeditionskollegen erinnert der orange, runde Floor, auf dem wir stehen, an Animations-Abende in Hotelanlagen, wo er wohl auch einmal war. Er findet das gar nicht so gut. Benutzt sogar die harten Worte trashig und schmierig. Wahrscheinlich brechen gerade Kindheitstraumata auf. Ich bin Verner Panton-Fan und finde alles, was nur ein bisschen nach dem großen Meister aussieht, großartig. Ich bin nach wie vor von der 70er Jahre Hedonismus-Ferienanlage begeistert.
Felix Fuchs
Isa GT ist in London lebende Kolumbianerin, die im Anschluss den Strand übernimmt. Cumbia, Baile Funk
Dann wieder Radioclit, allerdings in ihrer Bandinkarnationsform The Very Best. Das sind live die zwei Radioclit DJs, der malawische Sänger Esau Mwamwa und ein MC Molaudi aus Südafrika. Zwischendurch springt eine Tänzerin herum, die so mir nichts dir nichts zwischendurch in der Brücke auf allen Vieren über die Bühne spaziert.
2008 veröffentlichten The Very Best ein Gratisdownloadalbum, auf dem sie neben anderen Vampire Weekend, M.I.A., Michael Jackson, Architecture in Helsinki ihrem Afro-Pop-Rework unterzogen. Ihr Liveset kommt vom Laptop, die MCs übernehmen die gesamte Arbeit. Es ist eine Kombination aus Coverversionen vom Mixtape und eigenen The Very Best Nummern von dem im letzten Jahr erschienenen Album "Warm Heart of Africa".
Der MC motiviert das Publikum mit Ansagen wie "Wanna loose your shit" und es fällt auf fruchtbaren Boden. 21 Uhr 36, und hinter mir kriechen Menschen auf allen Vieren, diesmal nicht in der Brücke, im Kinderpool. Ein Mädchen, das so aussieht, als ob sie weint oder ihre Kontaktlinsen verloren hat, versucht mehrmals im Spaß ihren Freund zu treten und jedes Mal hebt es sie aus und sie plumpst aufs Neue ins Kinderpool. Ich liebe englische Raver.
Felix Fuchs
Toy Selectah aus Monterey, Mexico hätte als nächster spielen sollen. Ich verehre ihn schon seit der Zeit, als er bei Control Machete war. Die beste mexikanische HipHop-Crew, die ich kenne. "Si Señor" ist nach wie vor eine unglaubliche Nummer.
Heutzutage spielt Toy Selectah eine Mischung aus Hip Hop, Cumbia, Breakbeats und Reggae und gehört zu Diplos Mad Decent Familie.
Dass mein Held irgendwo wahrscheinlich frierend einsam und hungrig auf einem Flughafen hängen geblieben ist, lässt meinen Zorn gegen Fluglinien wieder kurz aufwallen.
Aber keine Zeit für Agressionsschübe, es gibt noch das 70er Jahre Disco-Ufo zu erkunden. Die Discotheka Barbarella in Petrčane ist die Ligth-Version eines Verner Panton Raumentwurfs.
Felix Fuchs
Terminator im Barbarella Universum
Form gewordene amorphe Discoextase, wohin man nur blickt. Ich kann mir keinen drastischeren Widerspruch vorstellen als Juan Atkins Maschinenklangwelten in so einem Raum. Maschinenmusik aus der auseinanderfallenden Industriestadt Detroit schlägt hart im dekadenten 70er-Jahre-Lounge-Palast auf .
Die futuristische, electroide Kühle, die Soundwelt, die Atkins über das Gerüst von Detroit Techno legt, schlägt sich mit den Bubbles on the Dancefloor. Terminator marschiert im Barbarella Universum ein.
Felix Fuchs
Juan Atkins war neben Freundschaft der Grund, 600 Kilometer zu reisen, und ich muss nach 20 Minuten seines Sets aufgeben. Der Grund: temporäre Blindheit. Ich bin selbst Freundin des hedonistischen, egozentrischen Partyspaß und kaum in der Position, jemandem Nikotinkonsum abzusprechen, aber heute gibt mein Körper auf. Aus Freude über das nichtexistente Rauchverbot und die moderaten Tabakpreise vervielfacht sich die Inhaltationsfrequenz unserer britischen Rave-Schwestern und -Brüder.
Deprimiert und mit dem festen Vorsatz, ein neuer, fitterer und besserer Mensch zu werden, taumle ich halb blind über die Minigolf-Bahn heim.
Der Vorsatz, ein besserer Mensch zu werden, stirbt 300 Meter weiter in der Hotelhalle. Eine weitere Runde des beliebten Festivalspiels - wieviele Freunde können sich in ein Einzelzimmer schmuggeln? - steht an. Diese Aufgabe meistern wir souverän.