Erstellt am: 5. 9. 2010 - 08:25 Uhr
Summer's Gone
Ein Interview mit Brian Molko ist in FM4 Connected (15-19) am Montag zu hören.
Stephen King schreibt in einem seiner Romane, dass einem die Welt irgendwann einmal im Leben einen fiesen Verkehrspolizisten schickt, der einen runterbremst. Nämlich dann, wenn die Zeit mit ihrer niederträchtigen Subtraktion beginnt, einem die Haare ausfallen und auch die Sprungkraft nachlässt. Manche der jungen Festivalbesucher am Two Days A Week +1, die wie irr bei Jello Biafra herumhüpfen und sich gegenseitig anstoßen, wird der Polizist noch eine Weile in Ruhe lassen.
Arthur Einöder hat es viel besser beschrieben: Festival heißt die Realität vergessen. Wieder jung zu sein. In solchen Momenten macht alles Sinn. Etwa Jello Biafra, der Ex-Dead-Kennedys-Sänger, der im blutverschmierten Metzgerhemd die Bühne betritt und dessen Warnungen vor einer noch viel schlimmeren republikanischen US-Präsidentschaft im Herumgehüpfe verpuffen. Oder The Boss Hoss, die Berliner, die auf US-amerikanische Cowboys machen, auf der Bühne nur Englisch reden und Cover-Versionen von Britney Spears und Nelly als mainstreamtauglichen Country spielen. Ich weiß immer noch nicht, ob man das ernst nehmen soll oder nicht.
Without You I'm Nothing
Fotos: (FMS) Robert Kohlhuber, (FMS) Robert Hinterleitner und (FMS) David Bitzan
Und dann kommt die Band, die mich an eine Zeit erinnert, als der Verkehrspolizist noch nicht hinter mit her jagte. Denke ich an Placebo, denke ich an die Legende von James Dean, der es angeblich liebte, dass brennende Zigarettenstummel auf seiner Brust ausgedrückt wurden. Der leidende Schönling und Rebell, ein klein wenig Vorbild für Brian Molko. Mir fällt ein, als ich mich im Sommer 1998, nach dem Kauf von "Without You I'm Nothing", während der letzten 2 Minuten des Titelsongs auf den Boden legte und an die Decke starrte. Und ich darüber nachdachte, wie es wäre mir einen Namen mit einer Rasierklinge in den Arm zu ritzen. Ich war 17, hatte Bekanntschaft mit dem Selbstmitleid gemacht und Molkos Texte sprachen mir aus dem Herzen. Und auch wenn "My Sweet Prince" kein Loblied an das beste Stück des Mannes gewesen ist, im Alter von 17 passt es einfach. "There's nothing here, but what here's mine".
(FMS) Robert Hinterleitner
12 Jahre später hab ich mich verändert, aber Placebo merkt man die Jahre nicht an. Musikalisch hat man sich geöffnet: Auf der Bühne gibt es mit Steve Forrest nicht nur einen viel jüngeren Drummer, sondern auch noch einige Zusatzmusiker, die für einen breiteren, vielschichtigeren Sound sorgen. Textlich bleibt aber alles beim Alten bzw. beim Jungen. Im Interview, zwischen den beruhigenden Düften von Räucherstäbchen, erklärt mir Molko, dass es wohl am Michael-Jackson-Syndrom läge, in dem er selbst stecke. Molko sei im Herzen nie über das Alter eines Teenagers hinausgekommen und das sei der Grund, warum 15-jährige Mädels auch heute noch etwas mit den Texten eines fast 40-Jährigen anfangen können. Und die Bilder gleichen sich immer: Mit Molkos eindringlicher, unverkennbarer Stimme erhöht sich der Schmerz zu einer bittersüßen Erfahrung. Das "Ashtray Heart", wie jüngst besungen, vermischt sich mit italienischen Zeilen: eine Arie an die "Heart-Shaped Box".
All Apologies
(FMS) David Bitzan
Apropos Nirvana. Vor einigen Jahren hat man Placebo noch als die Glam-Rock-Version von Nirvana bezeichnet, in Wiesen covern sie "All Apologies" und huldigen damit einem weiteren ewig jungen Rebellen, in diesem Fall Kurt Cobain. Ich glaube vielen war gar nicht bewusst, was das für eine besondere Geste war. Und wie unauffällig sich die Melodie von Nirvana ins Set von Placebo einfügte, so als stammten alle Songs nur von einer Band.
Oft habe ich spekuliert, Beweis noch keinen, aber Placebos "Song To Say Goodbye" war für mich schon immer ein insgeheimer Hilferuf an den Nirvana-Sänger ("and a voice that made me cry"). Am heutigen Abend folgt der Song direkt auf das überraschende Cover und geht über in "The Bitter End". Dramaturgisch kann man so einen Moment nicht besser ausleben.
(FMS) Robert Hinterleitner
Davor liefern Placebo ein Hit-Feuerwerk, wie man es auf einem Festival erwarten kann. "Every You Every Me", "Meds", "Sleeping With Ghosts" in einer Heavy-Version, "Infra-red" und "Nancy Boy". Ein Stück, das Molko lange Zeit nicht live spielen wollte, da ihm jeglicher emotionale Bezug dazu fehle. Die Zeit verändert eben manches. Stücke des aktuellen Albums "Battle For The Sun" sollen hier allerdings auch nicht unerwähnt bleiben: "Ashtray Heart" ist echter Bubblegum-Pop mit Razorblade-Appeal, "Breathe Underwater" eine große Hymne und das nur auf der "Redux"-Version erhältliche "Trigger Happy Hands" ein Stadion-Song aus dem Lehrbuch. Hände in die Höhe, dann nach rechts und links: "Put your hands in the air, and wave them like you give a fuck".
(FMS) David Bitzan
Summer's Gone: Nach nur knapp 90 Minuten ist es vorbei, dieses letzte Konzert der heurigen Festivalsaison. Und eine Sommernacht, die so kalt ist, dass man regelrecht spürt, wie der Herbst einem in den Nacken bläst. Das Bild von James Dean wurde bei mir in der Zwischenzeit verdrängt: Durch das Bild einer der unzähligen Seifenblasen, wie sie gerne bei Festivals die Luft schmücken. Diese eine flog ganz hoch, bis sie platzte. Und während das Klingeln in den Ohren nachlässt, höre ich noch die letzte wunderschöne Minute von "Follow The Cops Back Home". Let´s rob their houses. So zahlen wir es den Verkehrspolizisten vielleicht heim.