Erstellt am: 5. 9. 2010 - 15:00 Uhr
Road to Norway
Da Kollege Hure ein halbes Jahr im fernen Norwegen zuzubringen beschloss, fanden Kollege Wurm und ich es angebracht, den lieben Freund zu besuchen.
Wir studierten vorab den Reiseführer.
Dieser informierte uns darüber, dass dem Norweger zur Begrüßung ein saloppes „Hei“ genügt und dass wir es unter allen Umständen vermeiden sollten, die Bevölkerung auf das heikle Thema Walfang anzusprechen. Mein Vorschlag, nach einem freundlichen „Wal!“ über Haifang zu sprechen, wurde von Herrn Wurm missbilligt. Außerdem wird gleich zwei Mal auf den norwegischen Nudistenverband hingewiesen, den man zu kontaktieren hat, wenn man entblößt schwimmen möchte. Ich hätte die Roaminggebühren nur allzu gerne investiert, um einen norwegischen Nudisten telefonisch zu fragen: „Ich stehe hier am Hardangerfjord in meiner Badehose und würde sie jetzt gerne ausziehen. Darf ich?! Büddebüddebüdde!!!“
Dass Norwegen „extrem teuer“ sei, hatte sich zu uns durchgesprochen. Deshalb kauften wir noch in Österreich bei einem populären, schon von Wolfgang Ambros besungenen Nahversorger ein.
Beim Eingang versuchte eine Greisin, den Bewegungsmelder auszulösen. Wir wiesen sie darauf hin, dass sie den Ausgang benützen müsse, am besten, indem sie vorher bezahlte. Sie versuchte weiter, durch den Eingang zu fliehen und fragte uns, ob das Geschäft denn schon geschlossen sei.
Zauber der Demenz!
Florian Graßecker
Die folgende Autofahrt bot genügend Zeit zur Zwiesprache. Wir fragten uns, ob es in der Gebärdensprache Zungenbrecher gäbe oder ob man auch in Australien Autoaufkleber wie „No Schnitzl in Australia“ als Pendant zu ‚No Kangoroos in Austria’ an Autoscheiben anbringt und machten ansonsten das, was man eben im Auto so macht:
Schweigen, sich über anderer Lenker Fahrweisen empören, bei Oldtimern „Wow!“ sagen, feststellen, dass es regnet und zwanghaft Wortwitze mit Ortsnamen suchen.
In Hamburg machten wir einen Zwischenhalt, um ein Fischbrot zu essen. Beim Schlendern kam uns eine Gruppe junger Männer entgegen, die sich durch zur Schau getragenes Merchandising eindeutig als HSV-Fans deklarierten. Sie sangen: „Ein Ohr, Ein Ohr, Ein-Ohr-Ein-Ohr-Ein-Ohr, Niki Lauda, Niki Lauda hat ein Ohr.“
Das war seltsam.
Von Dänemark, dem Land der stotternden Radiomoderatoren, nahmen wir eine Fähre nach Norwegen. Diese war luxuriös ausgestattet. Im Kleide einer Kreuzfahrt versuchte man, den Passagieren die ersten Kronen abzuluchsen. In unserem Fall gelang das nicht, Kollege Wurm machte am einarmigen Banditen beträchtlichen Gewinn. Das Konsumverhalten der Mitreisenden war aber seltsam. Eine Stunde vor der Ankunft erklommen wir das oberste Deck, um uns in bequemen Stühlen auszuruhen. Als wir wieder zu unserem Auto gelangen wollten, hatte sich die Szenerie im Restschiff beträchtlich verändert. Vorwiegend Norweger schienen zuerst alleine von den für ihre Verhältnisse günstigen Alkoholpreisen berauscht worden zu sein und hatten die folgende Zeit anscheinend genutzt, um so schnell wie möglich so viel wie möglich in sich hineinzuschütten.
Florian Graßecker
Aus zuvor zurückhaltenden und stillen Nordeuropäern hatte sich in knapp drei Stunden ein unzurechnungsfähiges Knäuel gebildet, aus dem nicht nur für uns unverständliche Brabbellaute schallten. Irres Kichern, verstörtes Brüllen, gescheiterte Geh-, Sitz- und sogar Liegeversuche. Die Schnaps-Hamsterkäufe im steuerfreien Einkaufsparadies hatten ihr teuflisches Werk vollbracht. Auf den Treppen kugelte sich ein junges Paar, das sich im Wahn ganze Chipstüten über ihre Köpfe goss. Ein älterer Herr lehnte mit der Stirn gegen eine Toilettentüre und hyperventilierte heulend.
Die Szenerie wirkte, als hätte man Komparsen der Serie ‚Traumschiff’ nach dem letzten Drehtag erlaubt, die Kulissen nachts zu ruinieren.
Der Gedanke, dass sich unter den Sturzangeheiterten wohl auch Autolenker befanden, war slightly uneasy.
Am nächsten Tag erreichten wir Bergen, die regenreichste Stadt Europas. Kollege Hure residiert dort in einem Studentenheim, das wie eine russische Kaserne der Fünfzigerjahre aussieht. Seine vier Wände teilt er freiwillig mit einem durchgehend laut sprechenden Italiener und unfreiwillig mit zwei Polen, die in volumenstarken Kanistern versuchten, Wein herzustellen, der so schmeckte, wie man sich Wein vorstellt, der heimlich in Plastikbehältnissen vor sich hin gärt.
Florian Graßecker
Am Fischmarkt von Bergen aß ich den teuersten Snack meines Lebens, ein bierdeckelgroßes Fischbrot. Ein Vogel verfehlte mit seinem puddingartigen Kot den kostspieligen Imbiss um zehn Zentimeter. Ich hätte das Brot wohl trotzdem gegessen. Außerdem labten wir uns an Elch- und Rentierwurst.
Florian Graßecker
In einem Kaffeehaus klaute ich eine Tasse und hatte das Gefühl, das Jahrhundertverbrechen von Bergen begangen zu haben. Norwegen scheint das redlichste Volk der Welt zu beherbergen. Es lebt in einer Landschaft, deren Bauwerke der geduldigen Hand eines verschrobenen Modelleisenbahn-Begeisterten zu entstammen scheinen. Jedes Haus ist schön und wirkt, als wäre es in den letzten Monaten frisch lackiert worden. Die Straßen sind perfekt asphaltiert, wofür man auch zweistellige Eurobeträge pro Tunnel oder Brücke bezahlt.
Die Bevölkerung ist zurückhaltend und freundlich. Man trinkt kaum und verschmäht Tabak. Alles ist sauber, alle sind still, alles scheint zu funktionieren. Man sieht keine Obdachlosen, selten Vertreter der Exekutive. Senioren wirken froh und vital, Körperbehinderte sind ausschließlich mit elektrischen Rollstühlen unterwegs, mit denen sie mitunter auch in jene natürlich stets mustergültig gereinigten Behindertentoiletten cruisen, die man selbst am letzten Gletschergipfel problemlos findet. Nirgends Verfall, überall Wohlstand und Glück. Norwegen – die Schweiz des Nordens, ein Naturparadies als Jackpot des Lebensstandards. Wie schön! (Aber auch ein bisschen langweilig.)
Unserem Selbstwertgefühl konnte dies wenig anhaben, da wir immerhin feststellen durften, dass die Bevölkerung weitgehend unattraktiv ist. Auch die Sprache klingt wie eine Mischung aus Mittelhochdeutsch, Turkmenisch und Schwyzerdütsch, also etwas unsexy.
Florian Graßecker
Nach einer Nacht im Gebirge taten wir es Zelt und Schlafsack gleich und waren nass bis auf die Knochen. Die blieben wenigstens trocken. Also mieteten wir am Eidfjord eine Hütte, um bei Kerzenlicht, Weißwein und Käse Backgammon zu erlernen. Für gewöhnlich fesseln mich Brettspiele nur peripher, außerdem bin ich außerstande, Spielregeln länger als einige Tage zu behalten. Backgammon ist dagegen einfach zu erlernen und kann durchaus spannend sein.
Kollege Wurm gestand mir am Ufer des Fjords zu später Stunde eine der charmantesten Neurosen, die mir jemals zu Ohr kamen: Er hat Schwierigkeiten, DVDs anzusehen, weil er dabei Angst bekommt, er könnte etwas im Fernsehen verpassen, obwohl er sonst eigentlich nicht übermäßig viel fernsieht. Mein Schmunzeln darüber wurde von einem zwanzigminütigen Lachkrampf über den unterklassigen Schmäh „Fjord Fokus“ abgelöst, für den ich mich nachhaltig schäme.
Florian Graßecker
Gerade so gut in Fahrt, skizzierten wir gedanklich eine schöne Filmidee:
Ein U-Boot durchquert mehrmals täglich einen großen Fjord. Darin sitzt eine Gruppe hochbetagter Herren in SS-Uniformen, die versehentlich nicht darüber informiert wurden, dass der Zweite Weltkrieg längst zu Ende ist. Ihre Mission – ein Bergufer zu überwachen – erfüllen sie noch immer mit großem Eifer, feiern jährlich den Geburtstag des Führers und sind froh darüber, dass an Land alles in bester Ordnung zu sein scheint. Treibstoff und Dosennahrung beziehen sie aus einem gigantischen, unterirdischen Lager.
Rührende Szenen ergeben sich, wenn gezeigt wird, mit welchen selbst erfundenen Spielen sich die Greise bei Laune halten, worüber sie streiten und dass sie noch immer Fotografien ihrer Geliebten bei sich tragen und die Hoffnung auf ein Wiedersehen noch nicht aufgegeben haben.
Selbstverständlich ist auch ein Skeptiker in der Gruppe, der schon länger vermutet, die Mission sei eigentlich nicht mehr aktuell. Die plötzliche Krankheit eines Offiziers bewegt die Altnazis gegen Ende des Films dazu, nach mehr als sechs Jahrzehnten in die alte Heimat aufzubrechen, wo sich wahlweise ein kitschiges oder trauriges Ende ergibt.
Florian Graßecker
Leider hatten wir aber gerade kein Millionenbudget zur Hand. Das wäre für mehrtägige Norwegen-Aufenthalte grundsätzlich nützlich, denn hier kann man viel Geld ausgeben. Das ist auch eines der beiden Themen, die man mit anderen Touristen erörtert: Norwegen ist teuer, aber wunderschön.
Die zu großen Teilen von Menschenhand unberührte Natur ist tatsächlich majestätisch. Wir besichtigten auf dem Weg in die wohlklingende Stadt Geilo den Wasserfall Vøringsfossen. Umringt von amerikanischen Touristenbusinhalten starrt man dort in die Tiefe und sagt: „Öha!“
Wie kann man nun aber die Schönheit des Landes und die hohen skandinavischen Preise listig zum eigenen Vorteil nutzen? Indem man erstere fotografiert und die Bildeln dann den Norwegern um ein Heidengeld verkauft. Denn die Fotografie scheint ihnen ein Buch mit sieben Siegeln zu sein. Ob auf Postkarten, an den unzähligen Informations-Raststätten oder an Plakatwänden – wohin man blickt, beleidigen überbelichtete oder unscharfe Bilder mit seltsamen Perspektiven oder unglücklichen Winkeln das anspruchsvolle Auge.
Florian Graßecker
Wieder zurück in Bergen, versuchten ich mit den Kollegen Hure und Wurm, an der Küste zu angeln. Zu diesem Zweck hatten wir die erschwinglichste Angelschnur samt Haken erworben. Als Bleiersatz klebten wir Steine mit Gaffa-Tape an die Schnur, als Köder diente fachgerecht gekneteter Brioche. Zwar schwamm ein Wal vorbei, was uns frohlocken ließ, einen Fisch konnten wir mit unseren stümperhaften Versuchen freilich nicht locken, für die wir uns noch dazu auf einer regelmäßig befahrenen Brücke exponierten, wo uns erfahrene Fischer bestens beobachten konnten. Noch ihren Urenkeln werden sie dereinst von den drei Schießbudenfiguren aus Österreich berichten, die den dilettantischsten Angelversuch der Weltgeschichte in Bergen ohne Scham und Anstand vorführten.
Florian Graßecker
Gedemütigt machten wir uns auf den Heimweg und hörten schweigend Radio Norge, wo der rotzfreche David Potato die Hörer mit seinen Scherzanrufen triezt und ausschließlich der Schlager ‚Alejandro’ von Lady Gaga gespielt wird.
In Berlin pausierten wir für eine Nacht in einem von Punks besetzten Haus, wo ich mit meinem Burlington-Pullover Irritationen auslöste. Man hielt Kollegen Wurm und mich wohl für Zivilpolizisten.
Wieder zu Hause, ziehe ich ein zufriedenes Fazit: Wir sahen an einem Tag vier Regenbögen, zuvor einen Fuchs, den wir mit Essiggurken zu begeistern nicht imstande waren, und vor allem war ich nicht zu faul, das bedrohlichste Salat-Cover-Model von hier bis Texas abzulichten.
marc carnal
Außerdem erlaubten mir die reichhaltigen Erlebnisse im Norden, den weltweit ersten Reisebericht zu verfassen, der endet mit dem Wort: Sperma-Weitspuck-WM.