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Physische Welt, virtuelle Realität. Politik und Kultur.

3. 9. 2010 - 12:53

Ars Electronica 2010 - Teil 1

Sind wir noch zu retten? FM4 sendet live aus der alten Tabakfabrik.

Dass die alte Tabakfabrik ein guter Hauptveranstaltungsort für die diesjährige Ars Electronica sein würde, war schon beim ersten Spaziergang über das Gelände klar. Der gigantische, denkmalgeschützte Industriekomplex aus den dreißiger Jahren lässt staunen, motiviert zu Erkundungstouren und spiegelt wider, worum es 2010 auf der Ars geht: Unter dem Claim "Repair - Sind wir noch zu retten?" beschäftigt sich ein goßer Teil der ausgestellten Werke mit Umweltschutz, Umweltsünden, kreativen Lösungen zum behutsamen Umgang mit Ressourcen und Ansätzen zur einer alternativen politischen und gesellschaftlichen Struktur. Darüber hat Robert Glashüttner bereits Anfang der Woche hier geschrieben.

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Es empfiehlt sich auf dem Fabriksgelände in Linz, einen Plan dabei zu haben: Ausstellungen, Konzerte und Aktionen finden in mehreren Hallen statt, deren Größe ohne weiters einem jeweils eigenen, riesigen Standalone-Event dienen könnte. Die Hallen tragen teils althergebrachte Namen wie "Bau 1", "Lösehalle" und "Magazine", oder etwas modernere Bezeichnungen wie "Future Factory" und "Sound Space". Zu beurteilen was lässiger ist, überlasse ich euch - "Schauma no an Sprung in Bau 1" hat auf jeden Fall etwas.

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Wirklich wichtig ist natürlich, was sich drinnen abspielt: Digitale Kunst auf höchstem Niveau, eine Leistungsschau preisgekrönter Arbeiten wie etwa die des britischen Künstlers Thomas Thwaites, mein Lieblings-Aussteller für heute: Thwaites hat das sagenhafte Toaster Project erschaffen, Resultat eines Versuchs, einen elektrischen Toaster von Grund auf neu zu entwickeln.

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Thomas Thwaites

Das Toaster Project

In welcher Art von Höhle findet man eigentlich Eisenerz? Und wie kriegt man dann das Eisen aus dem Erz heraus? Wie macht man selbst Plastik? Die Antworten darauf findet man nicht in der Wikipedia, sondern in Bibliotheken mit Büchern aus dem 15. Jahrhundert. Thwaites kletterte in aufgelassenen Bergwerken herum, zerstörte Dutzende Töpfe, Kessel und Mikrowellenherde beim Versuch, die gefundenen Eisenerz-Brocken einzuschmelzen, atmetet giftige Dämpfe ein beim Herstellen von Plastik aus Kartoffelmehl und diversen Pflanzensäften, und schaffte es nach neun Monaten Arbeit tatsächlich, von Grund auf einen Brotröster zu konstruieren. Mehr darüber heute in unserer Ars Electronica Sondersendung in FM4 Connected.

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Der Toaster im Eigenbau. Bitte das Stromkabel nicht berühren.

Fotoausstellung

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Auf dem Rückweg vom Interview mit Thwaites stolpere ich über die Ausstellung "My husband and me, me and my wife", eine Fotoserie mit 25 Paaren verschiedenen Alters und ethnischen Hintergrunds.
Einige Körperteile der Ehepartner sind vertauscht, insbesondere solche, die mit dem in Zusammenhang stehen, was nach unserer Auffassung das Geschlecht bestimmt. Die lebensgroßen Bilder erzeugen ein seltsames Gefühl von Neugier und Verwirrung zur gleichen Zeit.
Ein Effekt, der sich auch im Raum daneben einstellt: Nine Eyes Of Google Street Views ist ein Film- und Fotoprojekt des kanadischen Künstlers Jon Rafman, das die von Google entwickelten Technologien gleichzeitig feiert und kritisiert.

Kurzfilme

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Handlung eines der Kurzfilme von Rafman: Ein Mann sucht seine verschwundene Exfreundin per Google Street View - dort exisitiert das einzige ihm bekannte Foto von ihr, eine Nacktaufnahme von hinten am Strand. Der Mann hofft auf mehr Bilder und findet knutschende Pärchen oder Szenen von Unfällen. Der Film zeigt ausschließlich Originalbilder von Sreet View. Das Video wird auf die kahle Betonwand der Magazinhalle projiziert. "Ist es nicht seltsam, wie die verwischten Gesichter in den Bildern von Google Street View dem entsprechen, wie wir Menschen auf der Straße die meiste Zeit wahrnehmen? Wir blenden sie aus", sagt Jon Rafman. Google Street View zur gleichen Zeit abzufeiern und zu kritisieren ist für ihn konsequent, weil Technologie gesellschaftliches Befinden widerspiegle und Technologien sich erst dann weiterentwickeln können, wenn die Menschen bereit seien, sie anzunehmen. "Google wurde nicht Top-Down auf die Gesellschaft draufgestülpt. Es war ein kleine Firma, die gewachsen ist. Es gab ein gesellschaftliches Bedürfnis für die Dinge, die Google tut."
Ein zweiter Kurzfilm Jon Rafmans proträtiert das (fiktive) Leben des Fahrers eines Google-Streetview-Autos. "Seine Tätigkeit ist nicht so verschieden vom stundenlangen Schneiden eines Videos."
In der nächsten Betonhalle hängen Kristall-Luster an der Wand. Fast schon heimelig. Derzeit erforscht übrigens die Johannes Kepler Uni, wie man die 2009 geschlossene und von der Stadt Linz gekaufte Tabakfabrik in Zukunft nutzen könnte.

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Das mobile FM4-Studio

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In der "Repair Lounge", wo auch unser mobiles FM4-Studio steht, lacht sich einstweilen ein Riesenroboter krumm.
"The Destruction Of The Ego" ist die Kopie eines ursprünglich 30 Zentimeter hohen Spielzeugroboters, die für das Kunstprojekt der Schwedin Tove Kjellmark auf drei Meter aufgeblasen wurde. Die Maschine lacht hysterisch, wirft sich zuckend auf den Boden, sieht süß aus, nervt und verstört. Ein Besucher reißt dem Roboter den Arm ab. Die Künstlerin sucht einen Spezialkleber um ihn zu reparieren. Die ständige Pflege des Roboters ist gewollter Teil des Kunstprojekts - Design for Repair.

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Tove Kjellmark versucht, den abgerissenen Arm ihres Riesenbabys zu kleben

Repair the environment, Repair society, Repair yourself - letzteres ist ein Stokwerk im Bau 1, wo sich BesucherInnen massieren lassen, oder Vorträge über Meditation anhören können.
Im "Sound Space" liegt derweil eine Künstlerin reglos auf dem Boden und atmet durch einen Schlauch, der ihr linkes Nasenloch mit einem Bildschrirm verbindet. Es ist Teil einer generativen Musikperformance namens "Frozen Music", die an mehreren Tagen im "Sound Space" stattfindet. Ein digitales Wesen wird durch die Atmung der Künstlerin erschaffen, 14.000 Elemente die sechs verschiedene Zustände annehmen können und durch die Kohlendioxidkonzentration im Raum verändert werden.

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Enzis? Möbel aus Karton!

Die schiere Menge an Erfindungsgeist und Kreativität zeigt mir wieder: Ars Electronica ist in ihrer Gesamtheit nur zu begreifen, wenn man sich für einige Tage auf sie einlässt. Am lohnendsten sind die Ausstellungen, wenn man die Dinge mit Neugierde und Aufgeschlossenheit auf sich wirken lässt, und wenn man mit den KünstlerInnen redet. Wir haben das während des gesamten Festivals noch vor, bis Sonntag - ihr hört und lest davon.