Erstellt am: 1. 9. 2010 - 12:53 Uhr
Der Flüchtling
Am 20. Jänner 1976 wird eine junge Frau mit über fünfzig Messerstichen in ihrem Zimmer in Padua ermordet. Der damals neunzehnjährige Massimo, Student und Mitglied einer linksradikalen Bewegung, findet die Leiche und meldet den Mord der Polizei. Anstatt als Zeuge vernommen zu werden, nimmt man den Burschen auf Verdacht des Einbruchs fest und klagt in später des Mordes an. Nach knapp eineinhalb Jahren wird Massimo wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Doch schon im darauf folgenden Jahr wird das Urteil revidiert und der junge Student zu achtzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Es folgt für Massimo ein langer Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit. Ein Kampf um sein Leben.
Was sich wie eine recht konstruierte Story eines Kriminalromans liest, ist eine wahre Begebenheit. Nämlich der berühmteste und zugleich größte Skandal in der Rechtsgeschichte Italiens: "Der Fall Carlotto". Aber es ist auch viel mehr als das. Es ist das Leben von Massimo Carlotto, mittlerweile einer der bekanntesten italienischen Krimiautoren, der nach längerem Schweigen uns mit einem packenden, autobiographischen Roman nun doch seine Geschichte erzählt.
Das Leben als Flüchtling ist ein Seelenzustand
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Klett-Cotta Verlag
Massimo Carlotto nimmt in seinem Vorwort gleich vorweg, dass es hier nicht um das Abwägen von Schuld und Unschuld geht, da laut dem Autor ein "unüberbrückbarer Abgrund zwischen den realen Geschehnissen und ihrer rechtlichen Bewertung klafft". Kein Wunder, haben sich in den langen siebzehn Jahren sechsundachtzig Richter und fünfzig Gutachter in elf Prozessen mit diesem "Fall" befasst und sich oft widersprochen. Demnach geht es Carlotto vielmehr darum, das Gefühl eines "Zufallsflüchtigen", wie er sich selbst nennt, zu vermitteln.
Nachdem die Verteidigung mit ihren Revisionsanträgen scheiterte, flüchtet Massimo Carlotto Anfang der Achtziger nach Paris. Dort muss er in kürzester Zeit lernen, sich verschiedenste, soziale Identitäten zu erfinden und deren Masken überzustreifen. Das "Leben mit den unsichtbaren Mauern" folgt strengen Regeln, drch legere Kleidung nicht aufzufallen, alle neuralgische Punkte zu meiden, bei denen Personenkontrollen wahrscheinlich sind, bei jedem Umzug das wenige, angesammelte Hab und Gut zurückzulassen und sich für die Gesellschaft sofort unsichtbar machen zu können.
Marijan Murat
So sind all seine Bekanntschaften dieser Zeit entweder politische Flüchtlinge, Terroristen oder Kriminelle, die in dieser unmenschlichen Grauzone zu überleben versuchen. Doch gibt es neben seiner Familie, die ihn auf Umwegen immer wieder finanziell unterstützt, auch eine Beziehung, die ihm ein wenig Halt gibt. Sonst lässt es sich nur schwer erklären, wie Carlotto es geschafft hat, mit seinen Panikattacken auf offener Straße und den unerträglichen Angstzuständen in seinen abgeschotteten, einsamen Wohnungen immer wieder zurecht zu kommen.
Als Carlotto sich entschließt, Europa zu verlassen und nach Mexiko zu gehen, zerbricht seine Liebesbeziehung und die Megametropole Mexico City fügt seiner Seele tiefe Wunden zu. Schwer gezeichnet von psychischer Labilität und extremer Fresssucht, hervorgerufen durch seine Gefängnisvergangenheit und Depression der Ausweglosigkeit, jemals ein normales Leben führen zu können, vertraut sich Carlotto einem Dokumentenschwindler an, der ihn auffliegen lässt. Zurück in Italien beginnt das letzte und beschwerliche Kapitel seiner Geschichte, dass ihm fast das Leben kostet.
Kletta-Cotta/Tropen Verlag
Massimo Carlottos autobiogrphischer Roman macht auch verständlich, warum seine Werke, wie "Arrivederci Amore, Ciao" oder "Die dunkle Unermesslichkeit des Todes" von einer derart derben Sprache, wütenden Charakteren und der Faszination für das Böse im Menschen dominiert werden. Es sind Reaktionen darauf, achtzehn Jahre seines Lebens beraubt worden und am fehlerhaften Justizsystem seines Landes fast zerbrochen zu sein.
Ein Puzzelspiel aus Ohnmacht und Hoffnung
"Der Flüchtling" zieht einen vom ersten Satz an in den Bann. Carlotto versteht es meisterlich, durch kurze, episodenhafte Absätze den Leser zu fesseln. Dabei setzt er das Puzzelspiel seiner Geschichte nicht chronologisch zusammen, sondern springt von seinem heruntergekommenem Pariser Versteck ins italienische Zuchthaus, wechselt gekonnt von beobachteten Tragödien in Mexiko City zu selbst erlebten Torturen im Gefängnis. Immer wieder zieht er die Ebene des Rechtsstreits und der Entwicklung seines Justizfalles ein und stellt sie seiner teils ironisch kommentierten teils ehrlich offenbarten Gefühlswelt gegenüber. Dabei durchziehen nicht nur Tristesse und Ohnmacht die knapp hundertachtzig Seiten, sondern auch Wut und Zorn, die Carlotto scheinbar auch die Quelle der Kraft bildeten, alles durchzustehen. Außerdem versteht es der italienische Autor trotz aller Tragik seinen schrägen Bekanntschaften und den brenzligen Situationen, in denen seine Tarnung fast auffliegt, mit Humor und Witz zu begegnen, schließlich ist "Selbstironie die beste Verteidigung gegen die Brutalität des Lebens".
Dieser autobiographische Roman berührt nicht nur durch seine einfache Sprache, sondern auch durch die absurde Aufeinanderfolge von Verurteilungen und Freisprüchen, dem immer wieder aufbegehrenden und zermürbenden Kampf gegen die Mühlen der fehlgeleiteten Bürokratie, durch das unbeirrte Festhalten an die Hoffnung und den Glauben an Gerechtigkeit. Verpackt in einem literarisch geschliffenen und mit Spannung erzählten, autobiographischen Roman, dessen ans Ende gestellter, chronologischer Ablauf der juristischen Fakten einen verdutzt und kopfschüttelnd zurücklässt - und noch lange nachwirkt.
All diese Jahre hindurch war ich Zeuge gewesen, Verdächtiger, Häftling, Angeklagter, Freigesprochener, Verurteilter, Flüchtling, Häftling, Verurteilter, krankheitshalber von der Haft verschont, Angeklagter, Freigesprochener, Verurteilter, Häftling, Verurteilter und krankheitshalber von der Haft verschont. Und jetzt versuche ich, jemand anderer zu sein, vielleicht nicht gleich ich selbst, aber doch etwas in der Art, etwas weniger Entmenschtes, weniger der "Fall Carlotto".
(Massimo Carlotto - "Der Flüchtling")