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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

31. 8. 2010 - 15:22

Henkersmahlzeit in fünf Gängen

Herman Koch setzt mit "Angerichtet" eine schauerliche Familiengeschichte auf den Menüplan, bei der einem der Bissen im Halse stecken bleibt.

Herman Koch - Angerichtet

Kiepenheuer und Witsch

Herman Koch: "Angerichtet" ist 2010 in deutscher Übersetzung von Heike Baryga bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Zwei Brüder und ihre Frauen verabreden sich zu einem Treffen in einem Sterne-Restaurant. Man hat sich seit Jahren nicht gesehen und sich auch nicht viel zu sagen. Die Stimmung ist merklich angespannt, Gespräche drehen sich lediglich um Filme und Urlaubspläne. Der eigentliche Grund des Treffens wird während des luxuriösen Fünf-Gänge-Menüs bis zum Dessert vermieden: Ihre minderjährigen Söhne Rick und Michel werden in der Sendung "Aktenzeichen XY" als Mörder gesucht.

So ein Fünf-Gänge-Menü dauert lange und Bissen für Bissen wird die Situation zwischen den beiden Ehepaaren aggressiver. Paul Lohmann hasst seinen Bruder Serge. Er selbst ist unfreiwillig pensionierter Lehrer, Serge angehender niederländischer Ministerpräsident, auf den sich auch alle Blicke im Restaurant richten. Aber es ist nicht die Eifersucht, die die beiden Brüder auseinander bringt: Serge ist ein Proll, ein Rüpel, ein Macho. Er ist bereit, die Zukunft seines Sohnes zu opfern, nur um seine eigene zu retten. Die Situation verschärft sich weiter, als auf Youtube Clips auftauchen, in denen zu sehen ist, wie die beiden Jungs eine Obdachlose anzünden.

Selbstbetrug als Leibgericht

Das Setting dieser Henkersmahlzeit könnte absurder nicht sein. Nicht nur, dass es dem Anlass des Treffens unangemessen erscheint, passt auch keiner der Protagonisten in das snobistische Sterne-Restaurant. Im Verlauf dieses Abendessens wird häufig abgeschweift: zu Serge, der in den Ausschnitt der Bedienung starrt, zu einem Aperitif, der zum Unmut Pauls zehn Euro kostet und zu einem Oberkellner, der mit ausgestrecktem kleinen Finger äußerst aufdringlich bei jedem Gang ausführlich Herkunft und Zubereitungsart der viel zu kleinen Portionen erklärt.

Zwischen Flusskrebsen in Vinaigrette und Perlhuhnfilet in Speckmantel wird selbst der so grundehrlich wirkende Ich-Erzähler Paul immer suspekter. Der sympathische Ex-Lehrer entpuppt sich zunehmend als eine gestörte Persönlichkeit mit fragwürdigen Ansichten und versteckten Aggressionen. Mehr und mehr liest man den Roman gegen seinen eigenen Helden. Doch ein unzuverlässiger, schuldbeladener Erzähler ist nur eine Überraschung, weswegen dieses Abendessen schwer zu verdauen ist.

Flusskrebse

Siemens

Flusskrebse in Vinaigrette

Blut ist dicker als kochendes Wasser

"Angerichtet", der fünfte Roman des niederländischen Autors, Schauspielers und Komikers Herman Koch, ist ein Paradebeispiel für erzählerischen Realismus mit hintergründigem und pechschwarzem Humor. Die Story könnte einfacher nicht sein: Zwei Ehepaare treffen aufeinander, um die Zukunft ihrer Kinder zu besprechen. Das erinnert verdächtig an God of Carnage von Yasmina Reza. Auch in Rezas Stück wendet sich der Fokus des Erzählens von den Lausbubenstreichen der Kinder immer mehr auf die dunklen Geheimnisse und Neurosen der Eltern. Doch in "Angerichtet" kennen sich die Ehepaare bereits und der Tod einer Obdachlosen ist auch nicht als Lausbubenstreich abzutun.

Außerdem sucht sich Herman Koch auf geniale Weise einen Ort des Geschehens aus, in dem sich der ganze Roman bewegt. Weg von der Privatheit der vertrauten Wohnung, wie das bei Reza der Fall ist, hinein in ein Gourmet-Restaurant, in dem sich die Protagonisten zwischen Bewahrung der Etiquette und dem prüfenden Blick der Möchtegern-Gourmets um sich herum der eigenen Vergangenheit stellen müssen. Koch strukturiert dabei seinen Text wie das Fünf-Gänge-Menü des Abends: von Aperitif bis Dessert, Digestif und Trinkgeld. Dazwischen folgt man Paul auf die Toilette, um ihm beim Sinnieren über die männliche Potenz zuzuhören und sich über eine 400 Euro-Rechnung im Restaurant zu beklagen. Immer mehr erkennt man die Brüche in den Psychen der beteiligten Personen.

Schokoparfait

Thomas Sixt - de.peperita.com

Weitere Leseempfehlungen:

Herman Koch (!) wählt seine Zutaten sorgfältig, schneidet aber auch viel auf, ohne die Inhalte vollständig auszunehmen. Die Kunst dieses Romans liegt im Ungesagten: Dinge, die in der Familie bleiben und nicht einmal in der Fiktion ausgesprochen werden. Außenstehende, und damit auch die Leser, müssen sich ihren Teil selbst denken. Aber schon bei Leo Tolstoi heißt es: "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich."