Erstellt am: 30. 8. 2010 - 11:24 Uhr
Frankensteins Urenkel
Ja, ich weiß schon, in letzter Zeit wurde an dieser Stelle filmtechnisch nur geraunzt, von Ausnahmen wie "Inception" einmal abgesehen. Aber der Sommer des fußballbedingten Kino-Vakuums und der müden Action-Blockbuster nähert sich seinem Ende.
Im Filmmuseum in Wien ist unter dem Titel "Autokino" eben eine Retrospektive gestartet, die zum Thema Roadmovie einige der großartigsten Streifen ever versammelt, mehr demnächst hier. Die wahnwitzige Komödie "Get Him To The Greek" und die fesselnde Doku "The Doors - When You're Strange" spüren auf höchst unterschiedliche Weise dem Spirit des Rock'n'Roll nach, auch dazu werden Lobpreisungen folgen.
Und dann bricht Ende September das von meinem Kollegen Markus Keuschnigg mitinitiierte Slash-Filmfestival über die Bundeshauptstadt herein und wird Genreliebhaber mit blutigen, durchgeknallten und obsessiven Werken zwischen Horror, Science Fiction und Apokalyptik beglücken.
Meine heutige, durchaus dringliche Empfehlung passt da perfekt dazu. Mit "Splice" legt US-Regisseur Vincenzo Natali, der zu den größten Hoffnungsträgern des zeitgenössischen fantastischen Kinos gehört, seinen bislang besten Film vor.
Senator Film
Was Natali seit seinem aufsehenerrregenden Debüt "Cube", rund um eine Gruppe Menschen, die in einem gefährlichen Würfel gefangen sind, auszeichnet, ist seine Ambition, mehr als nur simple Fanbedürfnisse zu befriedigen.
Wo sich viele andere vergleichbare Filmemacher mit dem Abspulen abgedroschener Stereotypen begnügen, auf simple Schlüsselreize setzen oder ihre dünnen Storys einfach mit Blutsuppe übertünchen, dehnt der 41-jährige Amerikaner die Genregrenzen so weit wie möglich aus. Mal sind es gruppendynamische Verhaltensweisen, die Vincenzo Natali ernsthaft fesseln, dann die Leere der Virtualität oder das perfide Fädenziehen regierender Konzerne.
"Splice" beginnt zunächst durchaus klassisch, erinnert an eine moderne Variation des uralten Frankenstein-Themas. Adrien Brody und die famose Sarah Polley spielen zwei privat und beruflich unzertrennliche Wissenschaftler, deren Vornamen bei Kennern vertraute Knöpfe drücken.
Clive und Elsa, das ist ein Fingerzeig in Richtung Colin Clive und Elsa Lancester, den Hauptdarstellern des immer noch unübertroffenen "Bride Of Frankenstein" (1935) vom legendären James Whale.
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In Natalis Gentechnologie-Update forscht das hochbegabte Paar im Auftrag eines dubiosen Pharmakonzerns nach künstlichem Leben. Ethische Bedenken scheinen beide kaum zu stören. Denn in ihren streng geheimen Privatexperimenten wagen sie erst recht drastische Schritte. In einem isolierten Labor vermischen Clive und Elsa tierisches und menschliches Erbgut miteinander.
Tatsächlich entsteht bei den verbotenen Versuchen der beiden Wissenschaftler ein gespenstisches Hybridwesen. Dren (bitte umgekehrt lesen) nennen die Eltern ihr artifizielles Baby, das in ungewöhnlicher Geschwindigkeit heranwächst.
Bald müssen die Forscher mit der Kreatur auf eine verlassene Farm ziehen, wo sich die Situation zwischen Mensch und Monsterkind (spooky: Delphine Chanéac) bedrohlich zuspitzt.
Was sich in der groben Nacherzählung wie krudes Schock-Kino aus der Direct-to-DVD-Ecke anhört, erweist sich als atmosphärisch dichtes Psychodrama, erzählt in weitgehend kühlen, blaustichigen Bildern.
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Einer der erfrischendsten Brüche mit vertrauten Mad-Scientist-Klischees sind gleich die beiden Hauptprotagonisten selbst. Clive und Elsa wirken wie popkulturell begeisterte Nerds von nebenan, die zu cool, eitel und getrieben zugleich sind, um über mögliche Konsequenzen ihrer Experimente nachzudenken.
Mit beeindruckendem Feingefühl blickt Vincenzo Natali, unterstützt von tollen Akteuren und beeindruckenden Effekten, in immer tiefere Abgründe, entlarvt Beziehungslügen, mixt puren Sci-Fi-Trash mit ernsthaften Gender-Reflexionen und dem Bodyhorror eines David Cronenberg.
PS: Vincenzo Natali plant, gleich zwei epochale Science-Fiction-Romane auf die Leinwand zu bringen. Mit William Gibsons "Neuromancer" will er den zentralen Cyberpunk-Wälzer adaptieren, an der Verfilmung von J.G. Ballards albtraumhafter Dystopie "High Rise" hat er bereits zu arbeiten begonnen.
Dass "Splice" bisweilen schon vom Vorspann an wie eine unverhohlene Hommage an die Frühwerke des kanadischen Regiegenies anmutet, könnte dem Film neben dem etwas unbefriedigenden Showdown zum Vorwurf gemacht werden.
Aber ich denke, wir sind uns einig, dass es Schlimmeres gibt als Cronenberg-Vergleiche. Schön jedenfalls, dass ein Film wie "Splice" hierzulande einen regulären Kinostart bekommt.
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