Erstellt am: 27. 8. 2010 - 07:00 Uhr
Die Flucht aus dem Elfenbeinturm
Gonzales
Vor genau zehn Jahren zieht der kanadische Musiker Jason Charles Beck nach Berlin, um sich neu zu erfinden und sein Alter Ego mit dem größenwahnsinnig anmutenden Debüt "Gonzales über alles"' als Präsidentschaftskandidat im heiß umkämpften Underground der Indie-Hochburg antreten zu lassen. Doch das war im Nachhinein betrachtet nur der erste von vielen klugen Schachzügen des studierten Jazzpianisten und abgedrehten Produzenten. Denn schon im gleichen Jahr legt er mit "The Entertainist" ein Rapalbum vor, dass die damals noch starre Indie-Community mit schrägem Humor vor den Kopf stößt. Noch dazu verkauft er seine jüdische Herkunft als wesentlichen Bestandteil seiner Unterhaltungskunst, lässt immer wieder sein virtuoses Spiel aufblitzen, nur um es gleich darauf in warmen, cheesigen Harmoniebädern zu ertränken und lässt bei Live-Shows zur Belustigung des Publikums seine verschiedenen, musikalischen Persönlichkeiten miteinander kämpfen.
Gonzales
2004 zieht der Wahlberliner aus seiner "Presidential Suit" aus, um sein bis dato meist verkaufte Album "Solo Piano" zu schreiben. Diesmal überrascht Gonzales mit rein instrumentalen Klavierstücken, hatte er doch zuvor Leslie Feists Meisterwerk "Let It Die" produziert und fortan mit Peaches und Jamie Lidell sein Veröffentlichungs- und Kollaborationsunwesen getrieben. Den Vogel schießt Gonzales nach seinem Umzug in die Stadt der Liebe mit "Soft Power" ab, einem Album in skurriler, funkiger Siebziger-Ästhetik, abgeklärt und detailverliebt arrangiert. In Interviews dazu setzt Chilly Gonzo den Entertainer mit dem Diktator gleich und bezeichnet sich selbst als "alten, konservativen Sack". Nur glaubt ihm keiner. Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, den kanadischen Musiker einmal ernst zu nehmen.
Rocky und Boyz Noise im Schachring
Listening Session:
Gonzales "Ivory Tower"
27. August in Connected (15-19 Uhr)
Gonzales neuester Streich nennt sich "Ivory Tower", ein Album, das hauptsächlich wieder instrumental ist, jedoch in Verbindung mit seinem gleichnamigen Filmprojekt steht. Halb Soundtrack, halb "reguläres" Studioalbum, wenn man so will.
Gonzales: "Ich kann nicht beeinflussen, wie Leute meine Musik und meine Alben wahrnehmen. Es gibt immer wieder große Irrtümer, wie bei "Soft Power". Jeder dachte, es sei ein kitschiges Witzalbum, dabei war es mein aufrichtigstes und seriösestes Werk. Fakt ist, dass die Musik von "Ivory Tower" vor dem Film entstanden ist und wir uns dachten, dass sie auch gut als Soundtrack funktionieren kann. Also ist diese Platte beides und hoffentlich einfach ein gutes Stück Musik."
Gonzales
Und doch ist "Ivory Tower" ein Gesamtkunstwerk. Schon der Eröffnungstitel "Knight Moves" spielt mit dem Filmplot, in dem Gonzales den idealistischen Schachspieler Herschel mimt, der nur an der Schönheit der Züge interessiert ist und schlussendlich gegen seinen großen Widersacher und filmischen Bruder Thaddeus, gespielt von DJ und Produzenten Tiga, in einem Meisterschaftsspiel antreten muss. So ist die ganze Stimmung der elektronisch sehr ambient-lastigen Platte eine sich langsam aufbauende und selbst in jeder einzelnen Nummer fortan steigernde. Bestes Beispiel ist "Smothered Mate", beginnend mit seinen schnell hüpfenden Klavierakkorden und den pompös einsetzenden Beats, das sich in einem sich ständig leicht verändernden Loop zum grand finale mit 80iger Snares, deepem House-Kick und verzerrten Gitarren aufschwingt. Ein Stück, das stark an die filmmusikalischen Trainingssequenzen von Rocky-Komponist Bill Conti angelehnt ist. An anderen Stellen klingen die gewagten Kompositionen des kanadischen Wunderpianisten wie in die Gegenwart transponierte La Boum-Melancholie, wenn sich in "Rococo Chanel" gehauchte Frauenstimmen und barockes Cembalo mit reduzierter Elektronikfrickelei mischen.
Alexandr Isard
Gonzales: "Es ist für mich die musikalische Repräsentation von Schach. Es geht also nicht um Popsongs, sondern um instrumentale Stücke, die sich über längere Zeit mit immer wiederkehrenden Mustern aufbauen. Wie wenn du beim Schach deine Armee in die richtige Position bringst und dann ... Boom! Das ist auch genau die Struktur, die Boyz Noise mit seinem elektronischen Stil kreiert."
Chilly Gonzales live in Wien
FM4 Kinopremiere von Ivory Tower, am Freitag, 1. Oktober 2010 um 21.00 Uhr im Votivkino Wien und anschließende Fragestunde mit Chilly höchstpersönlich.
10 years of FM4 Sunny Side Up Party am Samstag, 02.10. 2010 im Porgy & Bess.
Live: Chilly Gonzales’ Piano Talk Show und Violetta Parisini
DJs: Wolfgang Bachschwöll (A little Soul), John Megill und Makossa.
Doors: 20:30 Uhr!
Kennen gelernt hat Gonzales den Hamburger DJ und Produzent Alexander Ridha alias Boyz Noise durch seinen Remix für Feist. Die gemeinsame Arbeit für "Ivory Tower" gestaltete sich genauso reibungslos und geschmiert, wie Ridhas Rhythmen. Der reduzierte Einsatz der trockenen Beats und Synthie-Loops beim dancigen "Never Stop" oder flächigen und strangen Space-Zirkusstück "Pixel Paxil" stellt die perfekte Analogie zu der Geschwindigkeit dar, mit der die Platte produziert wurde. Die fertigen Klavierstücke mit entsprechendem Bombast gingen digital an Boyz Noise, der wiederum seinen zerbrechlichen Klangkosmos rund um die Kompositionen aufbaute. Hie und da änderte er die Strukturen zu Gunsten des Clubtanzbodens, ließ jedoch jede Pianolinie unangetastet. Schließlich ist für "Ivory Tower" das Tasteninstrumentm, was die Stimme für ein Popalbum ist.
Ich bin Europa!
Dass Chilly Gonzales nicht ganz auf abwegigen Pfaden wandelt und über dem Weltrekord-Liveklavierspielen, dem Bühnenbattle mit Andrew WK und Helge Schneider sowie seinen Piano-Lessons nicht ganz auf seine Stimme und seinen heiß geliebten Gonzo-Rap vergessen hat, beweist er mit der ersten Single "I Am Europe". Es ist eine mit stampfendem Housebeat unterlegte, wilde Assoziationskette aller Dinge, die der kanadische Exilmusiker in den letzten dreizehn Jahren in Europa beobachtet und aufgeschnappt hat. Dabei bezeichnet sich Gonzales selbst als dogshit ashtry oder shrugging moustache, bekleidet mit einem speedo tuxedo spült er als Kloschüssel ohne Sitz die Tradition in die Kanalisation und trinkt zu seinem diplomatic techno seinen rassist cappucino, nur um am Schluss zu verlautbaren: I am Europe!
Ein Schlüssel zum "neuen" Gonzales-Gesamtkunstwerk ist "The Grudge", eine Hommage an tabuisierte Gefühle wie Eifersucht, Neid oder den Zwang zum Konkurrenzkampf. All diese negativen Emotionen seien laut Gonzales in positive umzukehren, eine Technik, die vor allem Rapper zum eigenen Stilmittel umfunktioniert hätten.
Gonzales: "Ein Grund, warum ich Rap liebe, ist, dass diese Kultur geschafft hat, etwas, was gegen sie verwendet wurde, zu ihrer eigenen Befreiung umzufunktionieren. Nämlich den Kapitalismus. Ich bin eher wie ein Kind solcher Rapper aufgewachsen. Mein Vater war Immigrant und besessen davon, in dieser Gesellschaft zu funktionieren, einen Platz zu haben und viel Geld zu verdienen. Insofern ist mein Vater eher der Rapper. Ich hatte weniger Hindernisse in meinem Leben. Die musste ich mir erst selbst erschaffen, denn ich weiß, dass die Überwindung von Schwierigkeiten etwas Fundamentales ist, mit dem du eine Verbindung zu deinem Publikum aufbauen kannst."
Alexandre Isard
Damit ist auch verständlich, warum Gonzales' nächstes Werk eine Rapalbum wird, das voraussichtlich "Capitalist Revenge Phantasie" heißen wird. Ein weiterer gewagter Schritt hinaus in die "reale Welt", denn schließlich will der Kanadier nicht im Elfenbeinturm der Künstler sitzen, sondern mit den weltbekannten Popstars in den Ring tereten. Selbst, wenn er dabei immer wieder verliert.
Gonzales: "Es gibt den Moment, in dem du dich entscheiden musst, ob du von der Musik leben möchtest. Der Film ist unter anderem eine Analogie dazu, wie man auf diesem Weg vielleicht auch ein Stück seiner Unschuld verliert. Aber das ist wichtig, um in der realen Welt leben zu können. Ich möchte, dass meine Raps denen von Jay-Z gegenüber stehen, selbst wenn immer er der Gewinner ist. Grammy-Nominierung, Guinness Weltrekordhalter, all diese Dinge brauche ich, um mich in die reale Welt zu drängen und meinem Job als Entertainer gerecht zu werden. Ich übernehme für meine musikalische Gabe die Verantwortung, indem ich versuche, mehr Geld zu lukrieren, um noch größere, ambitioniertere Projekte machen zu können. Das ist meine Verantwortung und nicht einmal mein Geschmack. Denn sonst wäre ich ein richtiger Künstler und wir würden dieses Interview nicht führen, da mir egal wäre, was andere über mich denken."