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Anna Katharina Laggner

Film, Literatur und Theater zum Beispiel. Und sonst gehört auch noch einiges zum Leben.

24. 8. 2010 - 11:35

Unter Uns

"Über das Schöne, das Harmonische, das Glückliche erzähl´ ich wirklich nichts". Die Schriftstellerin Angelika Reitzer über ihren neuen Roman.

„Wie nervend darf ein Text sein?“, fragte Die Presse anlässlich der Literaturtage in Klagenfurt anno 2008. Dort hat sich vielleicht folgendes zugetragen: Angelika Reitzer las einen Text; eine Maische, deren Essenz noch in den Destillationsröhrchen steckt. Einzelne Herren der Jury delektierten sich bereits während der Lesung an ihrer wortgewaltigen Kritik.

Nach Klagenfurt fand sich Angelika Reitzer vor einer Mauer. Sie wollte über eine Frau schreiben, die verschwindet, sich aus der Gesellschaft zurückzieht. Ihr Name war Clarissa. Der Rest hinter der Mauer.

das buchcover von virginia woolfs roman "mrs dalloway"

moosan library

„Bei diesem Buch habe ich beinahe zu viele Ideen. Ich will Leben und Tod, geistige Gesundheit und Wahnsinn zum Ausdruck bringen; ich will Kritik am Gesellschaftssystem üben und es in Aktion vorführen,“ notiert Virginia Woolf Anfang der 1920er Jahre anlässlich ihres Romans Mrs. Dalloway. Ein Ensembleroman, in dessen Zentrum eine Frau namens Clarissa steht, die aus Anlass einer Dinnerparty über vergangene (Fehl-)Entscheidungen und gegenwärtige Zu/Missstände ins Grübeln gerät.

Virginia Woolfs Tagebucheintragung liest sich wie eine Ankündigung des 90 Jahre später erscheinenden Buches „unter uns“. „Das geht in Ordnung“, meint Angelika Reitzer, auch wenn sie beim Schreiben nie bewusst an Virginia Woolfs Clarissa gedacht, sondern eher jene nicht ganz normale Clarissa aus Musils „Mann ohne Eigenschaften“ im Sinn gehabt habe. Grundsätzlich lasse sie sich während des Schreibens aber weniger von Literatur als von Film und Musik inspirieren.

Buchcover unter uns von Angelika Reitzer

Residenz Verlag

"unter uns" ist im Residenz Verlag erschienen.

Glückliche Zeiten waren, sie sind nicht

Am Anfang von „unter uns“ trifft sich eine Familie, verzweifelte Menschen, wie es heißt, auf die ein Wir nicht anwendbar ist. Im Zentrum dieses Treffens und des restlichen Romans steht Clarissa. Ihr beruflicher Erfolg ist Vergangenheit, nun lebt sie als Arbeits-, Mittel- und Familienlose im Keller eines Hauses. Umgeben von Paaren, die wissen, wie ein interessantes Leben zu führen ist und dessen Parameter aufdringlich zur Schau stellen, schlittert sie immer tiefer in Depressionen und hält sich verdächtig oft auf einer Brücke auf.

Ich will Kritik am Gesellschaftssystem üben

Live
Am 7. September liest Angelika Reitzer im Wiener Phil. Beginn: 20 Uhr und einleitdende Worte: Clemens J. Setz

Nach und nach verdichtet sich der Text zu einer Entblößung der modernen Arbeitswelt, deren Maximen Effizienz, Gewinn und survival of the fittest sich in die Beziehungswelt einschreiben. Die Wesenszüge dieses Daseins beschreibt Angelika Reitzer knapp und haarscharf, stellt die abstrakten Parameter des In-der-Welt-Funktionierens bloß. Da geht jemand einer geregelten Arbeit nach, da wird über ein interessantes Leben und spannende Jobs gesprochen. Kaum, dass sich die leeren Aufenthaltsräume dieser Existenz mit Leben füllen.

... und es in Aktion vorführen

Angelika Reitzer

Lukas Beck

Angelika Reitzer erzählt keine Geschichte, „unter uns“ beginnt und endet nicht wirklich. Sie wechselt zwischen Ich-Erzählung, dritter Person und einem Du, das man nie vollständig entschlüsselt. All das Zusammenhanglose – Studentenproteste und der Traum von einem abgetriebenen Kind; ein Kinobesuch und die Verleugnung der eigenen Schwester; eine Reflektion über den öffentlichen Raum und ein Versuch, nach London zu übersiedeln – spannt seine Fäden über die Figur jener Clarissa. Sie hält den kaum überschaubaren Figurenreigen zusammen, obwohl oder gerade weil sie kaum mehr in ihr eigenes Leben involviert ist. „unter uns“ ist das, was sich durch die Destillationsröhrchen frisst, wenn man den Überblick verloren hat.