Erstellt am: 6. 9. 2010 - 15:21 Uhr
Lego extrem
Es ist ein famoser Tag: Freundlich lächelt die eckige Sonne vom Himmel, rechteckige Schäfchenwolken ziehen über eine idyllische Landschaft aus klötzchenförmigen Bergen, Wiesen und Tälern. Die eckigen Kühe muhen, die eckigen Schweine grunzen und zwischen Blümchenwiesen, Strand und Gebirg herrscht friedliche Gelassenheit. Mir selbst ist das im Moment egal, denn ich befinde mich etwa dreißig Meter unter der Erdoberfläche und suche mit meiner Spitzhacke bewaffnet in kilometerlangen Schächten und Höhlen nach Gold, Edelsteinen und Baumaterial. Schließlich will meine oberirdische Burgbaustelle anständig befestigt werden, denn nachts, wenn der eckige Mond aufgeht und Zombies und Skelette auftauchen, wird’s lebensgefährlich im Do-it-yourself-Legoland von „Minecraft“.
Minecraft
Sandkasten-Revival
Nur wenige Spiele verdienen den Namen des Sandbox-Spiels so eindeutig wie der Independenttitel des Schweden Markus Persson. „Minecraft“ ist eine riesige Sandkastenwelt im charmanten 8-bit-Retro-Look, in der alleine oder auch im Multiplayer eine zufallsgenerierte Landschaft vom Spieler nach Belieben aus der Ichperspektive umgeformt und gestaltet werden kann. Fast jeder der im Spiel vorhandenen quadratischen Materialblöcke lässt sich abbauen, nach Belieben wiedererrichten oder im umfangreichen Craftingsystem zu allerhand Gegenständen oder Werkzeug verarbeiten.
Und wie im richtigen Sandkasten entsteht das Spiel in dieser Freiheit dabei quasi von selbst: Man erforscht die Welt, baut aberwitzig ambitionierte Konstruktionen, gräbt sich tief ins Erdinnere vor, sammelt Rohstoffe, perfektioniert seine Bauten, bastelt Fackeln, schmilzt Erze, betreibt Ackerbau, lenkt Flüsse um, entwirft Schienennetze zum Materialtransport, findet unterirdische Höhlen und Monster und stirbt bei unvorsichtigen Nachtspaziergängen. Es gibt unendlich viel zu tun, was genau, bleibt dem Spieler selbst überlassen. Wer aber einmal vom „Minecraft“-Virus infiziert ist und das riesenhafte und komplexe Spiel hinter der harmlos aussehenden Lego-Fassade entdeckt hat, wird über kurz oder lang sogar von der Klötzchenwelt zu träumen beginnen. Nicht schlecht für ein Spiel, das sich offiziell noch im Alpha-Stadium befindet.
Minecraft
Anti-Casual CEWS
„Minecraft“ ist ein Independentspiel der besonderen Sorte: Hinter der einfachen Grafik versteckt sich eine nur auf den ersten Blick simple Weltensimulation, die nach etwas Einarbeitung verblüffende Komplexität in sich birgt. Für "Minecraft" und auch für den „großen Bruder im Geiste“, den Hardcore-Independent-Geheimtipp „Dwarf Fortress“, bietet sich mangels vergleichbaren Titeln im Mainstream ein eigenes Akronym an: Beide Spiele, „Dwarf Fortress“ mehr, „Minecraft“ etwas weniger, sind Complex Emergent World Simulations, in denen die Welt die Hauptrolle hat und das Spielerlebnis vom Erfindungsreichtum des Spielers abhängt. Kein Wunder, dass ganz ohne Arbeitsauftrag aus purem Experimentierdrang und Ehrgeiz in beiden Spielen schier größenwahnsinnige Megaprojekte verwirklicht wurden – in „Minecraft“ etwa unterirdische Riesenpaläste , automatisierte Schienennetze oder das „Earth“-Projekt (Achtung! Musikwarnung!) , im noch komplexeren „Dwarf Fortress“ riesige Festungsbauten und sogar eine voll funktionstüchtige Turing-Maschine.
Während im Mainstream die Sequels im zweistelligen Bereich vom Spielerlebnis immer stromlinienförmiger und kürzer werden, bieten Spiele wie „Minecraft“ oder „Dwarf Fortress“ komplexe, auch für Monate interessante Spielerlebnisse. Mit gewissen Einstiegshürden, aber dafür sozusagen mit Familienanschluss: Man kann dem Entwickler quasi beim Vollenden seiner Vision zusehen, ihn bei Gefallen schon während der Entstehung auch finanziell unterstützen und tauscht sich in der lebhaften Community aus. Klar, dass man die Anekdoten, die das Sandkastensopielen wie von selbst generiert, gern mit Gleichgesinnten teilt und sich bei kniffligen Fragen weiterhilft - dass beide Titel als Undergroundphänomene schon fast Kultcharakter haben, trägt zur eingeschworenen Gemeinschaftserfahrung noch zusätzlich bei.
“Minecraft“ ist als eingeschränkte Freeware-Version in Java direkt auf der Webseite oder per Download spielbar; zum Preis von €9,95 erhält man unbegrenzten Zugriff auf die umfangreichere aktuell spielbare Version sowie auf alle Folgeversionen. Der Kauf lohnt sich.
Und "Minecraft" macht auch beeindruckend vor, wie man sich als Ein-Mann-Programmierer finanzieren kann: Dank vorbildlicher Fan-Betreuung und innovativem Bezahlmodell - 9,95€ als "Pre-Order"-Preis für die aktuelle und alle noch folgenden Versionen des Spiels - hat Markus Persson auf diese Art kürzlich das einhunderttausendste Exemplar seines Spiels verkauft und kann sich nun mit einem beachtlichen finanziellen Polster an die Fertigstellung seines Spieles machen - eine Umkehrung des normalen Bezahlkreislaufs von Vorausfinanzierung, Abgabestress und oft dafür nur mäßiger Fan-Betreuung.
Ansonsten verbringt man zumindest bei "Minecraft" schlicht viele glückliche Stunden damit, in der eckigen Sandkiste kindlich im Dreck zu buddeln und Burgen zu bauen. Für die kommende Betaversion sind noch zusätzliche Spielmodi sowie erweiterte Multiplayer-Funktionalität angekündigt.