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Mari Lang

Moderiert, beobachtet und probiert aus – neue Sportarten, Bücher und das Leben in der Ferne. Ist Ungarn-Fetischistin.

19. 8. 2010 - 13:54

FM4 reist weg: Indien trifft auf Europa

Was ist im Urlaub schon normal? Eine Inderin beschreibt in einem kleinen Büchlein ihre Erlebnisse in Europa und lädt mich zum Abendessen ein.

Man schläft im Zelt zwischen Riesenspinnen und Kakerlaken und speist in Spelunken, in die man normalerweise nicht mal die kleine Zehe setzen würde. Normalerweise. Doch was ist im Urlaub schon normal? Das "Endlich frei"-Hormon beherrscht den Körper und lässt einen Dinge tun, die man sonst nicht tun würde. Zum Beispiel wildfremde Menschen in Indien anmailen und fragen, ob sie sich auf einen Chai treffen wollen.

Am Anfang war das Email

cover adrift: a junket junkie in europe

puneetinder kaur sidhu

Vor kurzem war ich in der nordindischen Stadt Chandigarh und bin dort auf ein Buch gestoßen, in dem eine Inderin von ihren Reisen durch Europa erzählt. "Adrift: A Junket Junkie in Europe" von Puneetinder Kaur Sidhu war schnell ausgelesen. Immerhin hat das Büchlein nur etwas mehr als hundert Seiten, von denen auf einer steht: "The author currently resides in Chandigarh." Weil ich mehr Reiseanekdoten hören und vor allem nachprüfen wollte, ob eine Inderin in Europa tatsächlich nur mit stinkendem schwedischen Dosenfisch und österreichischen Mozart-Touristenfallen zu kämpfen hat, schrieb ich ein Email. "Do you want to meet me?". Ein paar Stunden später saß ich im Wohnzimmer der 40-jährigen Schriftstellerin und ehemaligen Flugbegleiterin und mampfte dampfenden Daal (Linseneintopf) mit Reis, Raita (Jogurt mit Gurken und Tomaten) und ofenfrischem Roti (Fladenbrot).

daal und indisches essen

marilang

Westliche Touristen zum Essen einladen ist in Nordindien sowas wie ein Volkssport. Zum Einen aus purer Nächstenliebe, zum Anderen, weil man dafür anerkennende Blicke von Nachbarn und all jenen erntet, die davon Wind bekommen. Puneetinder Kaur Sidhu aber pfeift auf das, was Andere von ihr denken. Das typische Indien findet man bei ihr nur ihn Nuancen. Sie ist immer noch nicht verheiratet (eine Seltenheit innerhalb der indischen Gesellschaft!), lebt gemeinsam mit ihrer Mutter in einer 3-Zimmer Wohnung, trägt Jeans und T-Shirts und trinkt zum Abendessen gerne mal ein Bier. Um das zu bemerken, muss man ihr aber nicht unbedingt gegenüber sitzen.

"Adrift: A Junket Junkie in Europe" von Puneetinder Kaur Sidhu ist 2010 auf Englisch erschienen.

Ihr Debüt "Adrift: A Junket Junkie in Europe" ist voll von Affronts gegen das alteingesessene Indien. In ihren Geschichten erzählt sie in lockerem Plauderton von wilden Partynächten im Wiener Bermuda Dreieck oder von amourösen Gefühlen gegenüber einem ihrer Reisebegleiter. "The typical Indian woman, who was raised to have children and serve her husband, will surely be shocked", sagt Puneetinder, die gerade eine aufgeregte Lesung vor einer Gruppe betuchter Hobbyliteratinnen hinter sich hat. Ich weiß gut, wovon sie spricht, denn auch ich wurde auf meiner Indien-Reise zigmal auf meinen "husband" angesprochen und erntete bei der Antwort "I'm not married and travelling alone" verständnislose Blicke. Als Frau hat man in Indien nämlich nicht alleine zu reisen. In Europa hingegen ist das, wie wir wissen, kein Problem. Und Puneetinder Kaur Sidhu hat die ungewohnte Reisefreiheit deshalb in vollsten Zügen genossen.

puneetinder kaur sidhu

marilang

Vom Essen und anderen Abenteuern

Nach ihrer ersten Station in Deutschland hat sich die 40-jährige Reiseliebhaberin bei der Mitfahrzentrale (einer Online-Fahrgemeinschaft) registriert und sich von Unbekannten günstig von Schweden nach Dänemark, Österreich, Ungarn und Frankreich chauffieren lassen und dabei auch noch nette Bekanntschaften geschlossen. Einquartiert hat sie sich bei Freunden und Verwandten, - "Luckily, we Punjabis are all over the world" - für die sie im Gegenzug würzige Curries und Daal gekocht hat. Ein hoher Preis für jemanden, der eigentlich nicht gerne in der Küche steht. Von ihren tollpatschigen Kochkünsten verrät Puneetinder in ihren tagebuchartigen Geschichten eher wenig. Dafür widmet sie den lokalen Essensgewohnheiten der jeweiligen Länder unzählige Zeilen. Man liest, wo man das beste ungarische Gulasch bekommt, wie Weißwurst zum Frühstück schmeckt, und dass es in Österreich auch Krapfen mit Käsefüllung gibt. Das alles ist so bildhaft und leidenschaftlich beschrieben, dass man beim Lesen schon mal zu sabbern beginnt. Mit Sicherheit macht man sich jedoch nach der zweiten Beschreibung von duftendem Cappuccino mit Milchschaum einen Kaffee und versteht, warum Puneetinder Kaur Sidhu früher einen Food-Blog geführt und in der Hindustan Times eine Food-Kolumne hatte. Übers Essen schreiben kann sie nämlich genauso gut wie über ihre sonstigen Reiseerlebnisse, die offenbar allesamt positiv waren.

FM4 reist weg
Man kann auch daheim bleiben und dennoch weite Reisen unternehmen. Kopfreisen – mit der richtigen Literatur.

frau vor gloriette

puneetinder kaur sidhu

Puneetinder vor der Gloriette in Wien, der für sie romantischsten Stadt Europas

Keine 'Oh my God-Erfahrungen'?

Ganz kann ich aber nicht glauben, dass alles so glatt gelaufen ist. Deshalb frage ich, während uns die Küchenhilfe noch einen Schöpfer Daal aufs Teller häuft: "And you didn't have any 'Oh my God-experiences' as I had almost everyday in India?" Puneetinder Kaur Sidhu schüttelt den Kopf und lacht. "But I have many 'Oh my God-experiences' in my own country". Das ist interessant. Der Lärm, die Gerüche, die vielen Menschen. Der wahnwitzige Verkehr und das Treiben auf den Märkten - ein einziges, buntes Chaos, an das man sich offenbar auch als Inder nicht hunderprozentig gewöhnen kann. West-Europa dagegen wirkt wie ein aufgeräumtes Legoland, gesittet und ohne permanente Attacken auf die Sinnesorgane. Aber irgendwas muss doch auch für eine Inderin ungewohnt sein. Im Buch "Adrift: A Junket Junkie in Europe" liest man nur von eher kleinen, persönlichen Problemchen - zu starkem Palinka (Schnaps) in Ungarn oder Radfahren in Holland. Als gut situierte Inderin ist die 40-jährige es nämlich nicht gewöhnt mit dem Fahrrad zu fahren. In ihrer Heimatstadt Chandigarh hat fast jeder mindestens ein Auto. Und so beschreibt sie äußerst witzig ihre ersten Radfahrversuche seit ihrer Schulzeit, die sie durch holländische Weizenfelder macht. Und da versuche ich nachzuhaken. "So, you didn't have any problems doing everything on your own in Europe?". In Indien hat nämlich so gut wie jeder, der aus der Mittel- oder Oberschicht kommt, Hausangestellte - Köche, Putzpersonal, Gärtner, Chauffeure. Abwaschen, bügeln oder sein eigenes Bett machen, wie man das auf Reisen wohl oder übel tun muss, ist vielen neu. Aber auch da verneint Puneetinder Kaur Sidhu und meint mit einem Augenzwinkern: "On holiday you always do things that you normally wouldn't do, don't you?"