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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

19. 8. 2010 - 01:46

High Violent

In einem farbenreichen Set zwischen Einsamkeit und Ekstase gehen The National den Formen der Gewalt auf die Spur.

In der allgemeinen Symbolik der Farbenlehre ist Violett ein Zwischenton von Rot und Blau. Interessant sind die Eigenschaften, die dieser Farbe zuerkannt werden: einsam, kreativ, unbefriedigt, doch zugleich höchst aphrodisierend. Es wären auch jene Attribute, die auf die Emotionalität und Botschaften von "High Violet", dem aktuellen Album von The National, zutreffen könnten. Ein Song-Reigen, der sich selbst wichtig nimmt, dabei aber jene Zerbrechlichkeit aufzeigt, wie sie nur in einer schnelllebigen, modernen Welt von Peer-Groups vorkommen kann, in der die Individuen an ihren oft fremdkonstruierten Identitäten ersticken. Es ist eine gewalttätige Welt und "High Violet" ist der gewalttätige Soundtrack dazu.

The National

Niko Ostermann

Matt Berninger in blau-violett

Dieser Soundtrack ist das große Finale an einem Open-Air-Abend in der Arena in Wien, der sich Herzschmerz und Melancholie schon vorher auf die Fahnen geschrieben hat. Zuvor Support-Acts, die diesen Namen nicht mehr verdienen. Vielmehr waren es Akte einer dramaturgischen Inszenierung: The Kissaway Trail, Fanfarlo und The Low Anthem.

Before Sunset

Alle Fotos von Niko Ostermann

Die Dänen The Kissaway Trail haben die undankbare Aufgabe, bei hellem Tageslicht zu eröffnen. Ein solcher Abend schreit nach Dunkelheit, aber man kann die letzten Sonnenstrahlen auch dazu nutzen, die Seele zu erwärmen. "You're just pleasured in the sun" heißt es dazu passend in "Beat Your Heartbeat". Und The Kissaway Trail können das: Mit ihren britpophaften Hymnen aus "Sleep Mountain", ihrem fetten Pathos und ihrem satten, warmen Sound, der in manchen Momenten an Grandaddy und die Flaming Lips erinnert. Ganz wunderbar die nett eingefädelte Version von "Where Is My Mind" von den Pixies, die nicht nur Fight Club in Erinnerung ruft, sondern auch wieder das Spiel mit den Identitäten und den Formen der Gewalt, die man sich selbst antun kann.

The Kissaway Trail

Niko Ostermann

The Kissaway Trail

"La Fanfarlo" heißt die eher zufällig gedruckte Novelle von Charles Baudelaire, in der er mit einer deftigen Brise Selbstironie die Verwandlung vom dichtenden Dandy zum bürgerlichen Autor schildert. Gleichzeitig namensgebender Text für Fanfarlo, die nach The National eigentlich die zweitbekannteste Band an diesem Abend sind, doch trotzdem recht früh spielen. Mit The National haben Fanfarlo gemeinsam, dass sie mit opulenten Arrangements auf der Bühne ein emotionales Spinnennetz fädeln: Trompeten, Violinen, Xylophon, selbst die Laute, die wie von einem Kuckuck klingen, finden ihren Platz. Keine Überraschung: Sowohl bei The National als auch bei Fanfarlos Album "Reservoir" saß Produzent Peter Katis an den Reglern.

Die Band mit Sitz in London um den Schweden Simon Balthazar vermischt den dandyhaften Flair des zeitgenössischen Indierock mit den, wenn man so will, bürgerlichen Attributen klassischer Instrumente, womit wir wieder bei Charles Baudelaire gelandet wären. Besonders die bekannteren Stücke wie "The Walls Are Coming Down", "Luna" und "Fire Escape" des relativ kurzen Sets gehen mitten ins Herz bzw. schaben es mit einem Löffel heraus, wie ich es bereits einmal beschrieben hatte. Das ist ein langsamer Schmerz, den man gar nicht spürt, weil man vom Pathos, der lieblichen Sirenenmusik und den wunderbaren Beats von Schlagzeugerin Cathy Lucas abgelenkt wird.

Fanfarlo

Niko Ostermann

Cathy Lucas von Fanfarlo

Ganz im Rampenlicht stehen dann The Low Anthem, deren Album "Oh My God, Charlie Darwin" bei uns immer noch als Geheimtipp gehandelt wird. Aber zu Unrecht: Das Kollektiv um Ben Knox Miller sieht bereits beim Auftritt von Fanfarlo von der Seite der Bühne zu, nur um dann ihre eigenen Kompositionen, die eigentlich leiser klingen, mit viel größerer Wucht vorzustellen. Bei mir klingen immer noch die Anfangsakkorde von "Charlie Darwin" im Ohr, dem Opener ihres Albums. Ganz fragil, kaum hörbar und still säuselt sich einem das Stück ins Gehirn, wie eine Trauerweide, deren Blätter sich im Wind bewegen.

The Low Anthem

Niko Ostermann

The Low Anthem

Vorher war schon von den verschiedenen Formen der Gewalt die Rede. The Low Anthem liefern an diesem Abend eine stille Form, einen Abgesang auf das, womit man sich schon abgefunden hat. Und womit sie Raum schaffen für das, was nachher kommt. Und das violette Licht.

Before Sunrise

Von violettem Licht eingehüllt, betritt jene Band die Bühne, die ich schon seit mehreren Jahren erwarte. Es ist nicht ihr erster Österreich-Auftritt, doch mir ist es nie gelungen, sie zu sehen. Die erste schmerzhafte Erfahrung, die ich mit The National verbinde. Aber das, was jener Auftritt in der Wiener Arena transportieren sollte, machte alles wett, riss aber umso mehr auf. Das Line-Up der Band, durch Streicher und Bläser ergänzt, wollte die Wunden aber gleich wieder schließen.

The National

Niko Ostermann

Mr. Dessner

Es gehört schon Mut dazu, wenn man gerade mit neuem Album auf Tour ist, aber trotzdem mit einem alten Stück den Abend eröffnet. Wie so manches bei The National macht das aber Sinn, lautet doch eine Zeile aus "Start A War": "We expected something, something better than before / We expected something more". Eine fast schon lakonische Einleitung und nur eine der vielen Textzeilen, die man auch bei mehrmaligem Hören nur schwer in einen Kontext stellen kann. Geld, das dem Geld des Geldes Geld schuldet, die orangenen Regenschirme, die die Gefahr von einem abhalten sollen und Kuchen, die man besser nie gebacken hätte: Es sind für die einen nur Assoziationsfetzen, für die anderen die Basis einer ganzen Welt. So wie die Zeile "You know i dreamed about you / For 29 years before i saw you" aus "Slow Show" für mich auch noch Bedeutung hat, wenn ich die 30 längst überschritten habe.

Das schönste Bild dieses Abends war für mich dieser eine The National-Fan, männlich, Kapuzenpulli, schwarze Umhängetasche, ganz für sich, unter dem Arm eine Vinyl-Ausgabe von "The Boxer". Mit geschlossenen Augen hat er sie umarmt und liebkost, als sei es sein einziger Seelenverwandter. Und vielleicht war das auch so.

Nur eines der vielen Bilder dieses Abends. Andere wären etwa die Gebrüder Dessner, die in fast schon zwillingshaften Bewegungen zu "Bloodbuzz Ohio" einen wütenden Gitarrenorkan entfachen. Herrlich auch das Publikum, das angeblich fast zur Gänze aus Ohio stammen wollte. Und ein "Hit-Feuerwerk": von den grandiosen Stücken aus "High Violet" wie "Sorrow" (mit meiner geliebten The Edge-Gitarre), "Anyone's Ghost" und "Afraid of Everyone" bis hin zu Lieblingen wie "Fake Empire", Slow Show", "Mr. November" und "Mistaken for Strangers".

Die Schlüsselfigur dieses Abends ist Matt Berninger. Wäre ich ein Frontmann einer Band, ich würde wohl in vielen Momenten so sein wie er: völlig in der Musik drin, desorientiert auf der Bühne herum gehen, dann wieder schreiend und pulsierend den Rest der Mannschaft anfeuern. Einer, der sich an seinem Mikro festhält wie andere an ihren Vinyl-Platten. Ich würde den Umgang mit seinem Mikro mit dem Umgang mit dem Publikum vergleichen: im einen Moment umarmend, im anderen von der Emotion getragen, es in die Luft und Boden werfen, mit dem Kopf und den Füßen dagegen treten.

The National

Niko Ostermann

Matt Berninger ist einer der aufregendsten Frontmänner, die mir je untergekommen sind. Vielleicht weil er selbst keiner sein will. Die Szene des Abends ist sein Spaziergang durch das Publikum bei "Mr. November", von der rechten Galerie ins Mittelfeld über die linke Galerie zurück, immer brav mit dem Mikrokabel durch das ganze Publikum. Inzwischen hat sich schon eine Traube an Menschen an ihn gehängt, bis er völlig selbstlos über Bier- und Weinlachen zurück auf die Bühne klettert, die er übrigens den ganzen Abend schon mit Blicken "vermessen" haben dürfte - ob sich der Sprung runter wirklich lohnt, ohne sich die Knochen zu brechen.

Und er hat sich gelohnt. Oft lohnt es sich, wenn man sich die Knochen bricht. Oder zumindest mit dem Gedanken spielt. Dann sieht man die Dinge in anderem Licht. Und nicht nur in violett.

The National

Niko Ostermann

Matt Berninger in rot