Erstellt am: 18. 8. 2010 - 20:26 Uhr
Fire Files Prt. III
9. Anthems
Keine Hymnen, schrieb man nieder. Keine Hymnen. „The Suburbs“ wäre frei von Leuchtfeuern, großen musikalischen Momenten und katharsischen Taumeleien, wie sie in „Funeral“ und „Neon Bible“ über die Welt stürmten und drängten. So stand es in der Zeitung. Keine Hymnen? KEINE Hymnen? Was ist Sprawl II (Mountains Beyond Mountains), diese nachträgliche Instandsetzung von Abba als kredible, zitationswürdige Schwedentruppe jenseits versöhnlicher Geburtstagsfeieren ab 30, anderes als eine Hymne? Dieser glorreiche Höhepunkt einer tausend Mal durchträumten Prom-Nacht? Wo das Herz aus Glas rot zu leuchten beginnt, der Lederjacken-Greaser endlich, endlich mit sich küssen lässt, weil Bösebubenmusik geht auch noch morgen. Obwohl, morgen ist ja alles anders. Da könnte man glatt ein neues Leben beginnen. Vielleicht hinter den Bergen?
Arcadefire.com
„Half Light II (No Celebration)“ no f*g anthem? Dieses langsame Aufbrausen, das durch einen bittersüßes OMD-Synth angezerrt wird und uns nach und nach in lichte Höhen trägt, bis sich Regine ab Mintue zwei einklinkt und mit Win rund um Bergspitzen tanzt. Ein kurzes Jauchzen, dann schweben wir zurück in die Dämmerung. Der Titel behauptet zwar das Gegenteil, doch diese Musik ist ein Fest.
„EMPTY ROOM“, dieses sonische Sequel zu „No Cars Go“ minus Männerchor - KEINE HYMNE? Das dramaturgisch ausgefuchste „Suburban War“, mit seinen zahlreichen Twists und Breaks kein intensives Stück Musik? „Ready To Start“ und „We Used To Wait“ nicht die größten, Arena (so what!) tauglichen Rock Songs unserer Tage? R u serious? Und „Modern Man“ trägt in meiner Musik-Library sowieso den Zusatztitel „Song for Don Draper“. Keine Hymnen. Ha!
10. Zwischen den Gipfeln
Der Berg ist am schönsten im Tal, lautet ein fiktives Sprichwort. An den Übergängen sollst du es erkennen, das Album-Album, ein anderes. Wem zwischen „Empty Room“ und „City With No Children“ nicht das Herz aufgeht, der oder die melde sich bitte beim nächsten Arzt oder Apotheker.
Merge Rec
11. Musik und solche Sachen
Ein „Funeral“ ist nicht wiederholbar. Das wissen die Götter im Himmel und auch auf Erden. Nichts da. Arcade Fire wollen mehr. Als Band wachsen zum Beispiel. Das geht nicht, wenn man bereits im dritten Anlauf beginnt in der Bandchronik nachzuschlagen. Also auf zu neuen Ufern. Von der typischen AF-Signatur ist ja ohnehin noch alles da: die Dringlichkeit, die weiten Melodiebögen, das Pathos, sogar die Chöre. Bloß, es purzeln nicht mehr alle durcheinander. Und es will auch nicht in jeder Sekunde alles gesagt und gesungen werden. Die Vehemenz lässt sich etwas mehr Zeit. Bei Arcade Fire funktioniert das. Die Siebtschaft klingt musikalisch aufgeräumter, organisierter, auch geduldiger aber nie, nie, nie blutleer, berechnend oder uninspiriert. Der Schmelz, er steckt nicht in der Form, sondern in der Tiefe. Das ist die große Kunst des dritten Albums. Und dort finden wir auch die „Verschrobenheiten“ und Störmomente, ohne die sich der beamtete Indieaner einfach nicht wohlfühlen kann. Von wegen in Richtung Hauptstrom navigiert, just listen closer!
Arcadefire.com
Die Größe beginnt mit dem weiten Raum, der sich in den Songs auftut. Alle Töne atmen, klingen, wirken. Die orchestralen, komprimierenden Arrangements sind Musik von gestern. Bei Bass und Gitarre wurde das Volume-Knöpfchen um einige Einheiten nach rechts gedreht. Der pochende 4/4 Beat, via Bassdrum schon immer im Soundvorrat von AF vorhanden („Rebellion“, „Neon Bible“) schwingt sich zu einem Dancefloor Pumpen auf („Half Llight II“, „We Used To Wait“) bis sich auf „Sprawl II“ schließlich die Disco-Kugel dreht (wer hätte das gedacht!) - und zwar auf eine betörend unaufdringliche Weise, die nicht nur die Mehrzahl der aktuellen Zucker-In-Den-Pop Kalauer aussehen lässt wie John Travolta in „Old Dogs“, sondern auch in vielen Jahreslisten ganz weit oben landen wird.
Ohne etwas am grundsätzlichen Wesen zu ändern, haben sich so fast unbemerkt schwer angesagte Sounds und Texturen in die AF-Musik geschlichen. Man hat die Kirche der heiligen Insturmente hinter sich gelassen (die mächtige Tour-Orgel war ohnehin nur ein Digi-Fake, Schall und Rauch für Menschen, die sehen müssen, was sie nicht hören können). Verantwortlich für die elektrischen Zusatzimpulse war nicht der abermals unterstützende Markus Dravs an den Reglern, sondern in erster Linie Wins Bruder Will, der in seinem Gartenhäuschen einen kleinen Schrotthaufen an alten Synths und Keyboards zusammenschleppt hat. Die Gerätschaft wollte ausprobiert werden und aus dem Versuch wurde ein soundtechnisches Konzept mit Tiefgang.
Merge
Auf „The Suburbs“ grummeln nun Basslines im Hintergrund oder zischen Synths durch die Songs wie Sternschnuppen. Die Arcades haben hörbar keine Angst vor atmosphärischer Ausleuchtung, was perfekt zum emphatisch vorbelasteten Themenkreis der Vorstadt passt. Dagegengehalten wird mit Rock, Singer-Songwriter und Honky Tonk Stücken, wie man sie auch noch nicht von Win und Co. gehört hat („Month Of May“, „Deep Blue“, „The Suburbs“).
So ist dieses dritte Album zu einem Befreiungschlag geworden, den man eigentlich gar nicht nötig hatte. Arcade Fire sind der Medienmeute, den Fans, ihren Band peers, dem eigenen Vermächtnis, ja sogar der Zeit, die uns alle zu Knechten der rasanten Gleichzeitigkeit macht, den entscheidenden Schritt voraus, den es braucht, um zu bleiben. Das ist das wahre Wunder aus der Vorstadt.
Fortsetzung folgt