Erstellt am: 7. 9. 2010 - 12:45 Uhr
"Das gleichgeschlechtliche Leben der Naturvölker"
Meine Einstellung zu Google Books kann ich seit den grauen Tagen meiner Diplomarbeit ("Themenkonkurrenz in Onlinemedien") zusammenfassen mit einem energischen "Volltextsuche". In Verbindung mit den Zitiermonstern Google Scholar, CiteUlike usw. ritt ich über die Informationsoberflächen wie ein Cowboy/girl auf dem Steckenpferd: bestgelaunt, aber es sollte niemand zuschauen. Google Books ist nicht die Onlinebibliothek, als die es viele missverstehen, sondern in Wirklichkeit ein einziger, riesiger, miteinander querverwobener Text. Google Books ist das Internet, Marke: World Wide Web.
Das war sozusagen meine akademische Sicht. Seit ein paar Wochen neu im Pro-Argumente-Repertoir: Google Books ist auch ein Findmaschine für obskure Texte, Außenseiterliteratur und literarische Außenseiter. Google Books ist randvoll, ungefiltert. Ein irgendwo aufgeschnappter Begriff, Name, eine selbsterfundene Verwinklung gibt Ergebnisse. Und diese Ergebnisse sind Bücher! Ganze Bücher voller Wahnsinn, Verirrungen und kollektiv verdrängter Ideen. Und das alles im perfekten Schmökerformat: Es lohnt sich gar nicht, all zu lange mit einem Text zu verbringen - es gibt ja noch soooo viel mehr zu entdecken! Die Google-Books-Bücher sind wiederum in Gänze Linklisten, weil jeder Begriff, Name, jede Verwinklung ganz sicher zu anderen wunderbaren Büchern führt. Browsen as if it's 95.
Zum Beispiel dieses Buch, mit dem ich wundervolle Stunden querlesend und irgendwelchen Verweisen folgend verbrachte - und mich immer wieder fragen musste: Felix, was ist deine Position?! Denn das kommt auch immer wieder: Gift, ungefiltert und randvoll.
Schon lange, angetrieben durch die Lektüre von irgendwie auch ethnologischen Aufsätzen, Romanen und Reiseberichten, Dschungelabenteuern und Missionars-Briefen, wollte ich mal ein großes ethnologisches Werk lesen. Dass ich jetzt aber ausgerechnet durch eine Wikipedia-Grafik des tollen WP-Sex-Illustrators Seedfeeder auf den mir bis dato unbekannten Begriff Tribadie und eine Google-Suche auf einen wahren ethnologischen Schatz bei Google Books stieß …
Es geht um “Das gleichgeschlechtliche Leben der Naturvölker” von Ferdinand Karsch-Haack, Erstveröffentlichung 1911. Karsch-Haack war laut WP ein deutscher Entomologe und Sexualwissenschaftler, der 1936 in Berlin verstarb. Er war es, der zunächst das Thema Homosexualität (oder muss man sagen: homosexuelles Verhalten?) bei Tieren aufs Tapet brachte. Er selbst, und das war mir lange Teile seines Buches nicht klar und war sowas wie ein großer Spoiler, lebte in seinem letzten Lebensabschnitt offen als Schwuler in Berlin.
Karsch-Haack wollte offenbar zeigen, dass die Wurzeln von Homosexualität nicht in der Kultur, sondern in den Anlagen zu suchen - und deswegen auch auf der ganzen Welt, bei Tieren und gewissermaßen auch bei Pflanzen zu finden sind, dass Homosexualität (als Praxis, nicht als Orientierung; deswegen auch die Pflanzen) also "natürlich" sei.
Warum aber “Das gleichgeschlechtliche Leben der Naturvölker” so ein Schatz für mich ist, hängt vor allem damit zusammen, dass es wunderbarer Lesestoff ist. Es ist eine unglaubliche Sammlung von Anekdoten! Alles darf rein: Rassismus, Pseudo-Ethnologie, die moralisierenden, abwertenden Berichte von Eroberern, Missionaren und Hobbyforschern, deren Ausführungen sich wie Protokolle eines Zoobesuches lesen. In weiten Teilen ist “Das gleichgeschlechtliche Leben der Naturvölker” ein Abenteurer-Bericht, der komische Käuze und quere Bräuche vorführt.
Das Buch erfüllt alle Wünsche nach abenteuerlichem Ethno-Schmumpf, ist ein Giftschrank voll schauderhaftem Kulturimperialismus und Rassentheorie, oft erheblich rassistisch. Wie soll man dazu stehen: Er meint's doch gut und wissenschaftlicher Mainstream war das "damals" doch auch.
Es ist immer leicht, sich auf ein "Damals" zu beziehen, als ob es keine Kontinuität gäbe, als ob "damals" ein ferner Ort ist, den man nur noch mit dem Fernglas sehen kann - in diesem Fall in einem ethnologischen Buch. Aber dass Vergangenheitsbewältigung eben nicht mit Distanz, sondern mit Nähe passieren muss - das beschreibt das unbedingt lesenswerte "Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren" an der verlinkten Textstelle ja super: Rassentheorie mag normal gewesen sein, Rassismus war immer böse - und wer diese Bosheit nicht reflektiert - wie ich manchmal bei Karsch-Haak finde - der muss "historisch" nicht-abgemilderte Kritik ertragen. Aber "Das gleichgeschlechtliche Leben der Naturvölker" ist eben nicht nur kritikwürdig (und damit Kritikfähigkeit-schärfend, es gibt ja niemanden mehr persönlich zu kritisieren).
Sondern über all dem Dreck scheint Karsch-Haacks aufklärerisches Licht. Seine Kritik ist sachte, seine Quellen verraten sich schon selbst. Da braucht es nur selten einen mahnenden Zeigefinger und nie Empörung. Man kann ihm vorwerfen, all dieses Schlechte, zumindest Unhinterfragte für sein Sache zu verwenden: Einem langen, langen Katalog der homosexuellen Praxen auf der ganzen Welt. Inklusive von 106 Bezeichnungen für “Weiblinge”, “passive Päderasten”, also Jungen oder Männern, die “mehr weibliches als männliches Wesen zur Schau tragen.”
Zunächst dachte ich, dass bei all seinen Ausführungen eine Romantisierung der “Naturvölker” (im Gegensatz zu den “Kulturvölkern”) mitschwingt - auch wenn er schreibt, dass sich das Menschenbild der Ethnologen wandele: Waren “Naturvölker” zunächst noch in einem “Zustand der Urzeit des Menschengeschlechts” und später - Edle Wilde! - “Völkerstämme, welche sich in so vollständiger Harmonie mit ihrer Umgebung befinden, dass ein Gefühl sorglosen Frohsinns und ruhiger Zufriedenheit, eine freiwillige Beschränkung auf das Vorhandene oder ohne große Mühe Erreichbare, eine Enge des geistigen Umkreises sie an weiterem Fortschritt verhindert.” So seien die angeblichen “Naturvölker” und “Kulturvölker” (“sie” und “wir”) in Wirklichkeit und in der zu seiner Zeit aktuellen Ethnologie doch eine “Einheit des Menschengeschlechts”.
Sein Kniff ist klar: Wenn alles eine Einheit ist und etwas “überall anders” normal ist, dann muss es auch “bei uns” normal sein. Das will ich ihm aber nicht mehr vorwerfen. Der Blick ins vermeintliche “Außen” fällt eben leichter - es ist für Karsch-Haack vielleicht nicht mehr als ein rhetorischer Trick.
Trotzdem blieb mir oft genug die Luft weg. Zum Beispiel: “Denn wohl dürften bei der weltbekannten leichten Hinneigung des Türken zur Päderastie [damit bezeichnet er Homosexualität, nicht Pädosexualität] die jugendlichen Schwarzen ihren Offizieren zu erotischen Zwecken haben dienen müssen.” Sätze wie diesen muss mal alle paar Seiten verdauen - und er meint das oft noch entschuldigend!
Man sollte deswegen Karsch-Haack nicht Rassismus vorwerfen. Zwar teilt er die Menschen der Welt in Rassen und Völker ein - letztlich geht es ihm aber gerade darum, diese Begriffe zu entkräften: Wir sind alle gleich, egal, welche Hautfarben und Haarmengen wir haben. Und weil wir alle gleich sind, finden wir auch Ähnlichkeiten, natürlich kulturell raffiniert, in unseren Sexualitäten.
“Das gleichgeschlechtliche Leben der Naturvölker” ist trotz alledem und auch gerade wegen all dem ein unglaublich spannendes Buch. Es ist auch angenehm: Kritik fällt leicht, was zu kritisieren ist, muss nicht mühsam aus einer Schutzschale hervorgepult werden. Alles steht ganz offen und naiv vor einem - und dürfte, so fühlte ich das zumindest, auch noch heute vielen in diesem Feld angelegten Argumenten verinnerlicht sein. Und so ist der Vergleich mit dem Giftschrank auch doppelt gut: Dieses Buch, gut gemeint, ist ein Sortiment, in dem ein guter Mensch versuchte, den Blödsinn vom Blödsinn zu trennen. Übrig bleibt ein Inventar - eines, das verdammt viel Spaß macht zu lesen.