Erstellt am: 26. 8. 2010 - 15:15 Uhr
Lesestoff: Die letzte Nacht des Sommers
Es ist drei Uhr in der Früh im Stadtteil Blackrock in Dublin. Vor einer Disco liegt der schwer verletzte Conor Harris, ein paar Stunden später stirbt er im Krankenhaus. Drei seiner Freunde, Mitschüler am Elitegymnasium, Kommilitonen an der Uni und Rugby-Teammates, werden Monate später wegen schwerer Körperverletzung verurteilt.
Kiepenheuer & Witsch
"Die letzte Nacht des Sommers" von Kevin Power ist in der Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann kürzlich bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, das englische Original Bad Day in Blackrock 2008 bei Lilliput Press.
Die letzte Nacht des Sommers ist das Protokoll einer zum Scheitern verurteilten Recherche. Es versucht zu erklären, warum Conor Harris sterben musste, und dass das Buch an dieser Aufgabe scheitern wird, das macht der Autor schon recht bald klar.
Das Buch kann nicht erklären, was Richard, Stephen und Barry dazu gebracht hat, Conor zu erschlagen, wahrscheinlich vor allem deshalb, weil Richard, Stephen und Barry es selbst nicht können. Trotzdem erklärt es mehr, als es zu erklären vorgibt: der Erzähler leuchtet Hintergründe aus, soziale wie familiäre, er recherchiert die Tat und die Tatnacht selbst, und er stößt immer wieder an seine Grenzen – aber diese Grenzen sagen oft mehr über das, was hinter der Geschichte steht, als die Ergebnisse selbst.
Die Geschichte einer Recherche und ihres Scheiterns
Bad Day in Blackrock, wie das Buch im Original heißt, nimmt Bezug auf eine wahre Begebenheit in Irland Anfang des vergangenen Jahrzehnts, es ist der Versuch einer fiktionalen Aufarbeitung dieses Todesfalls, der damals in Irland gehörigen Staub aufgewirbelt hat.
"If you find something in a society that people aren't talking about, in a sense that is what fiction is for. Talking about the things that people are reluctant to talk about or that only get talked about in a very crude way. I think that's what fiction does -- it's not a question of trampling all over sensitivities, that's absolutely not my project here at all."
Autor Kevin Power im Irish Independent
Die letzte Nacht des Sommers ist kein moralinsaures Gejammer über die unerklärliche Brutalität der heutigen Jugend. Es spart sich oberflächliche Erklärungsversuche á la Scheidungstrauma - Computerspiele - Komasaufen. Es ist, bei allem Bewusstsein seines Scheiterns, auch sprachlich um Klarheit, um Klärung bemüht.
Kevin Power und seine Übersetzer Ulrike Wasel und Klaus Timmermann benutzen eine einfache, direkte Sprache, ohne Manierismen, ohne Euphemismen. Es ist, als ob sich der Erzähler, der Rechercheur, zu dieser Klarheit zwingen müsste, sich an den Fakten festklammert, um zu verstehen, dass all das, was passiert ist, nicht zu verstehen ist.
Wer Irland regiert
wikimedia.org/Sean O'Connor
Kevin Power (*1981) arbeitet derzeit an seiner Dissertation am University College Dublin.
Für Bad Day in Blackrock erhielt er letztes Jahr den Rooney Prize for Irish Literature.
Natürlich geht es in Die letzte Nacht des Sommers nicht nur um den Tod eines Studenten. Vor allem beschreibt Kevin Power das Millieu der irischen Elite und seines Nachwuchs', der Süddubliner PrivatschülerInnen – der Klasse, die, so der Autor, Irland regiert.
"When I first came across the south Dublin middle classes - those private-school boys and girls - at university, it seemed amazing to me that all of this material was just lying there, as it were, waiting to be written about, and no one had done it yet. They're running the country, and nobody has noticed!
At least, so it seemed to me.
So I think we need fiction that addresses the question of who DOES run the country, and what they're like, and why they're like that."
Autor Kevin Power in einem Interview mit dem Blog Uiscebot.
Das Ausmaß des Selbstbewusstseins der herrschenden Klasse beschreibt er ebenso wie die Fragilität. Die Netzwerke, die als soziale Stütze nur im Erfolg funktionieren, weil der Systemerhalt, der Netzwerkbestand, wichtiger ist als das Überleben und das Wohlergehen seiner Mitglieder. Der Ausbruch der Brutalität in der letzten Nacht des Sommers wird zum Symptom für die nur mühsam kaschierte Brutalität des Alltags zwischen stolzen Eltern, vorgezeichneten Karrieren, den Erfolgen der Rugbymannschaft und dem score beim anderen Geschlecht.
Liest man Die letzte Nacht des Sommers hat man das Gefühl, einem Maler zuzuschauen, der zuerst die zentrale Szene seines Bildes malt und dann, Stück für Stück, Bäume, Häuser, Autos, Menschen, Leben - die Hintergründe hinzu fügt.
Das Buch erzählt das, was die mediale Berichterstattung vermissen lässt: die Schicksale hinter der Zeitungsmeldung, das Leben davor und danach. Kevin Power betont immer wieder, die Wahrheit nicht zu kennen, aber die Wahrhaftigkeit, die er beschreibt, geht viel tiefer.