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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

6. 8. 2010 - 16:00

Verloren im tragischen Universum

Scarlett Thomas ist eine der aufregendsten Autorinnen der Gegenwart. Ihr neues Buch "Our Tragic Universe" handelt vom Ende aller Geschichten, also vom Ende der Welt.

Weitere Buchrezensionen

Es ist schon einige Jahre her, dass ich wieder einmal traumverloren, süchtig nach neuem Hirnfutter durch die weiten Flächen eines großen Buchgeschäfts getaumelt bin. Mindestens hundert Einbände wurden von meinen Fingern bereits betatscht, Klappentexte auf ihr Unterhaltungspotenzial abgeklopft, bis ich nur mehr bordeauxrot sah. Vielleicht war es meine Liebe für die schauergotische Romantik, für alte Gebäude und ihre großen Hallen, für die brokatverzierten und ja, häufig bordeauxfarbenen Vorhänge, die mich dorthin geführt hat, wo ich dann für immer bleiben sollte. Zu einem Buch, das mich verändert hat. The End of Mr. Y war zu diesem Zeitpunkt noch nicht der Durchbruchsroman von Scarlett Thomas: Monate später wird er in über zwanzig Ländern verlegt worden sein und der verschrobenen Britin eine Schar von Liebhabern beschert haben.

Das Ende aller Geheimnisse

The End of Mr. Y

Canongate Books

The End of Mr. Y ist 2006 bei Canongate Books auf Englisch erschienen. Die deutsche Neuauflage heißt Troposphere und ist bei Rowohlt erschienen.

Man weiß schon nach den ersten Seiten, dass man sich auf etwas Besonderes eingelassen hat, dass man sich in guten Händen befindet. Thomas ist in vielerlei Hinsicht eine klassische Geschichtenerzählerin: ihre Romane haben Texturen, erzeugen Stimmungen, die sinnlich erfahrbar sind. Ihre Handlungsorte haben Geschichten, sind alt, verwittert, umwuchert von Natur. So wie Canterbury in der Grafschaft Kent: dorthin ist Thomas gezogen, nachdem sie jahrelang im düsteren Torquay, der Heimatstadt von Agatha Christie, gelebt und gearbeitet hat.
Hinter ihr liegt eine politisch aktive Zeit der Demonstrationen und offenen Systemkritik während ihrer Studentenjahre: durch ihr Werk zieht sich eine Skepsis gegenüber Autoritäten und der offiziellen Unterhaltungskultur, ihre Heldinnen sind Kettenraucherinnen (bis auf Meg Carpenter im jüngsten Buch; Thomas hat das Rauchen während des Schreibens aufgegeben) und kaffeesüchtig, spielen Videogames und lösen Kreuzworträtsel, hassen große Unternehmen und suchen ihr Heil in der Natur, tanzen mit Feen durch den Wald und essen Blumen.

Es ist beinahe ironisch, dass Thomas, die später eine absolut eigenständige Sprache entwickelt, als Auftragsautorin beginnt: in den Mittneunzigern schreibt sie drei Kriminalromane, allesamt gebaut um die enigmatische, starke Frauenfigur der 25-jährigen Lily Pascale. Zu dieser Zeit erfährt sie das Arbeiten in engen Genregrenzen am eigenen Leib und leidet darunter. Ein Großteil ihres späteren Werks kreist in seiner Struktur und anarchischen Dramaturgie darum, die aristotelische Triangel aus Beginn (Problem), Mitte (Klimax) und Ende (Lösung des Problems) zu unterwandern und aufzulösen. Sie will beweisen, dass da noch mehr ist und arbeitet sich mit einem Instrumentensatz aus Philosophie (häufig die von Nietzsche und Derrida), Literaturgeschichte (gerne Chekhov, nebst vielen anderen), Heilkräuterlehren, Metaphysik und Physik, Verschwörungtheorien und Kryptologie zu einem tieferen Verständnis der Welt durch.

Frau

Scarlett Thomas

Is Postmodernism Rubbish?

PopCo

Canongate Books

2004 erscheint PopCo zum ersten Mal, 2009 legt es Thomas' neuer Verlag Canongate in neuem Design wieder auf. Anfang 2010 erscheint die deutsche Übersetzung bei Rowohlt

2004 erscheint PopCo, das letzte Teilstück ihrer "Postmodernism is Rubbish"“-Trilogie. Thomas will nicht einschwenken in den coolen Referenzkanon, mit dem sich zeitgenössische Romane und Filme gerne schick machen. Sie besteht darauf, dass die Meta-Ebenen in ihren Geschichten mit allen anderen Ebenen, eben auch der konkreten Wirklichkeit, friedlich ko-existieren können, dass man sich nicht entscheiden muss zwischen Kunst und Leben, dass das eine das andere ist. Und umgekehrt.

Mit "PopCo" beginnt Scarlett Thomas eine neue Phase in ihrem Werk: ab jetzt gehen jedem Roman ausufernde Recherche-Reisen voraus. Monatelang vergräbt sich die zurückgezogen lebende Britin in Büchern. Für "PopCo" studiert sie massenweise Literatur zum Zweiten Weltkrieg und Kryptografie. Der Roman selbst baut sich dann, beinahe organisch, zusammen wie ein Quilt, ein Patchwork aus verschiedenen Einflüssen, zusammen gehalten nur durch ihre Hauptfigur. In "PopCo" begegnen wir der 29-jährigen Alice Butler, die von ihren rätselsüchtigen und grenzgenialen Großeltern fernab von Normalitäten großgezogen worden ist und mittlerweile in der Entwicklungsabteilung des Spielzeugkonzerns "PopCo" Detektivkits für Kinder entwickelt. Auf einem Seminar, das in einem Schloss abgehalten wird, soll das ultimative Produkt entwickelt werden: Alice erhält stattdessen unerwartet Post von ihrem verschollenen Vater, der ihr Hinweise auf ein großes Geheimnis liefert. Natürlich in Rätselform.

Auch The End of Mr. Y (als Mister Y oder Mystery zu lesen) arbeitet sich an falschen Oberflächen ab: Thomas erzählt von einer Akademikerin, die ein Exemplar des sehr seltenen Buchs "The End of Mr. Y" von Thomas Lumas in einem Antiquariat entdeckt. Darin beschrieben ist das Phänomen der Troposphäre, laut Lumas ein unter den Texturen unserer realen Welt befindliches Bewusstseinsuniversum, das man durch das Trinken eines Kräutersuds betreten kann. Hauptfigur Ariel Manto (ihr Name ist ein Anagramm von "I am not real") folgt den Anweisungen und findet heraus, dass das, was wir alle als Wirklichkeit begreifen, nur die Konsequenz von Handlungen in der Troposphäre ist.

Der Omega Punkt

Our Tragic Universe

Canongate Books

Our Tragic Universe ist im Mai 2010 in englischer Sprache bei Canongate erschienen. Die deutsche Übersetzung wird voraussichtlich im Sommer 2011 erscheinen

In ihrem aktuellen, vorerst nur auf Englisch erhältlichen Roman Our Tragic Universe treibt sie diese Strategie auf die Spitze: Hauptfigur Meg Carpenter spiegelt in vielfacher Weise Momente aus Thomas’ eigener Biografie wieder. Sie lebt in Dartmouth (ganz in der Nähe von Torquay), ist Auftragsschreiberin von billigen SF-Fortsetzungsromanen, arbeitet aber schon seit zehn Jahren an ihrem ersten richtigen Buch. Hundertmal schon hat sie es umgeschrieben, neue Ideen entwickelt, andere verworfen. Teilstücke des alten Texts vermengen sich mit neuen, immer wieder finden Rechercheergebnisse oder Thesen aus wissenschaftlichen Büchern Eingang darin, verändern die dramaturgische Textur des Werks. Je weiter man liest, desto poröser wird die Grenze zwischen Thomas’ Buch und dem Buch, das ihre Hauptfigur versucht zu schreiben. Irgendwann beginnt sie den Roman als Notizbuch zu verfassen: eine Ansammlung an Zufallsbekanntschaften, Fahrscheinen, Kritzeleien, Witzen und anderen Teilstücken, die die Notwendigkeit für eine konventionelle Geschichte vollkommen auflösen sollen. Über all dem schwebt die esoterische Theorie eines Populärwissenschaftlers namens Kelsey Newman, der davon schreibt, dass irgendwann ein "Omega Punkt" von Menschen kreiert wird, der eine Art von Himmel erschafft und darüber ewige Existenz ermöglicht.

As the universe gets ready to collapse, no one will be writing poetry about it or making love for the last time or just bobbing around, stoned and listless, waiting for annihilation, imagining something beautiful and unfathomable on the other side. All hands will be on deck for the ultimate goal: survival. Using only physics and their bare hands, humans will construct he Omega Point, which, with its infinite power, can and for various reasons definitely will, bring everyone back to life - yes, even you - billions of years after you have died, and it will love everyone and create a perfect heaven. At the end of the universe anything could happen, except for one thing. You can’t die, ever again.

Scarlett Thomas

www.simontrewin.com

"Our Tragic Universe" ist ein zerrissener Roman und Thomas’ bisher ambitioniertestes Projekt: vier Jahre hat sie daran geschrieben, den Text so oft umformuliert wie noch keinen zuvor. Das Resultat ist ein thesenhafter Thriller als Beziehungsmelodram, eine Supererzählung von der Textur des Universums aus der Perspektive einer Geschichtenerzählerin, in deren Kopf sich Fakt und Fiktion schon längst durchmischt haben.

Die Romane von Scarlett Thomas bergen das Potenzial, die Leben ihrer Leser in eine andere Richtung zu drängen, so vollgestopft sind sie mit wahnwitzigen Assoziationsketten und Verbindungsstellen. Sie kreiert Welten und bringt sie während der Erschaffung schon wieder zum Erodieren: bei aller altmodischen Anmutung sprechen ihre Geschichten eine hypermoderne Sprache, kommen in ihrer Modulationsfreudigkeit und Mutationswut der digitalen Lebenswelt erstaunlich nahe. Letztlich liegt es am persönlichen Geschmack, ob man in das "tragische Universum" findet oder außen vor bleibt. Jedenfalls aber ist Scarlett Thomas ein weiterer außergewöhnlicher, außerirdischer Roman gelungen.