Erstellt am: 2. 8. 2010 - 11:59 Uhr
Schuld ohne Sühne
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Als junger Anwalt wappnete sich Ferdinand von Schirach, seit 16 Jahren Strafanwalt in Berlin, mit dem Taschenbuch des Strafverteidigers, in dem der Berufsstand auf seine Aufgabe eingeschworen wird: "Verteidigung ist Kampf, Kampf um die Rechte der Beschuldigten." Dieser Berufethos brachte den Neuling dazu, als einer von neun Anwälten eine Gruppe von Volksmusikanten zu vertreten, die ein junges Mädchen bei einem Volksfest brutal vergewaltigt hatten. Da aber die individuelle Schuld an der Tat vor Gericht nicht feststellbar war, wurden alle Angeklagten freigesprochen. In der Kurzgeschichte "Volksfest" resümiert der Autor die Verhandlung des Anwalts von Schirach so: "Wir wussten, dass wir unsere Unschuld verloren hatten und dass das keine Rolle spielte. Wir schwiegen auch noch im Zug in unseren neuen Anzügen neben den kaum benutzten Aktentaschen, und während wir nach Hause fuhren, dachten wir an das Mädchen und die ordentlichen Männer und sahen uns nicht an. Wir waren erwachsen geworden, und als wir ausstiegen, wussten wir, dass die Dinge nie wieder einfach sein würden."
Piper Verlag
"Volksfest" ist eine von 15 "Stories", wie der Sammelband "Schuld" im Untertitel kurz und bündig benannt wird. Als Motto hat der Enkel des ehemaligen Reichjugendführes und Gauleiters von Wien, Baldur von Schirach, dem Buch einen Satz von Aristoteles vorangestellt: "Die Dinge sind, wie sie sind."
Das klingt einleuchtend, zumal eine Tautologie kaum zu widerlegen ist. Nur: Wie sind die Dinge, wenn man sie von mehreren Seiten aus betrachtet? Der Kampf vor Gericht, das weiß der auch stilistisch stets um Klarheit und Nüchternheit im Sinne des Aristoteles-Zitat bemühte Autor besser als die meisten anderen, ringt nicht um die Wahrheit einer Tat, sondern um eine bestimmte Sichtweise auf eine Tat, die es durchzusetzen gilt. Die Kluft zwischen Gerichtsurteilen und den vielen möglichen Wahrheiten über menschliche Motivationen lotet von Schirach nun in seiner zweiten Kurzgeschichtensammlung weiter aus. "Schuld" knüpft dort an, wo sein Debüt-Beststeller namens "Verbrechen" aufgehört hat. Mit dem Unterschied, auch die eigene Verstricktheit in das System Rechtssprechung zumindest einmal in der erwähnten ersten Geschichte anzusprechen. Wieder geht es, basierend auf ungeheuerlichen, abgründigen und teils auch wieder kuriosen Fällen, um die Schattierungen zwischen Gut und Böse und die Nuancierungen der moralischen Kategorie der Schuld. Wie legitim ist die Entscheidung für die Illegalität, wo endet die Freiheit einer Entscheidung, was sind mildernde oder erschwerende Umstände und in welchen Fällen erscheint sogar ein Mord gerechtfertigt?
Das Gesetz muss in einem Strafrahmen bemessbare Antworten finden, das belegen die zugrunde liegenden Fälle von Schirachs Kanzlei. Die Literatur aber kann sich auf die Vielzahl der Blickwinkel und die Heterogenität der Stimmen einlassen, ohne ihnen eine finale Deutung abpressen zu müssen.
AP
Ferdinand von Schirach ruft mit seiner Buchtitelfolge "Verbrechen" und "Schuld" den als "Schuld und Sühne" bzw. als "Verbrechen und Strafe" übersetzten, epochalen Roman Dostojewskis in Erinnerung. Das ist natürlich keine kleine Vorgabe. Von Schirach schlägt allerdings eine andere Richtung ein. Zum einen vertraut er in seinen Studien zur transzendentalen Obdachlosigkeit im Gegensatz zum russischen Romancier auf die kleine Form, auf das Puzzle der Fragmente. Zum anderen versenkt er sich nicht wie Dostojewski in psychologische Tiefenbohrungen über die Neigung zu Verbrechen in nihilistischen Zeiten, sondern gefällt sich in der souveränen Rolle des außermoralischen Beobachters, der aus der Verkettung des Faktischen fast eine Zwangsläufigkeit, zumindest aber eine Folgerichtigkeit der Taten und Entscheidungen destilliert.
Die (auf Dauer trotz ihrer Sogwirkung auch ein wenig schematisch wirkenden) short stories leben von der Fallhöhe zwischen den teils aufwühlenden Verbrechen und dem durchgängig lakonischen Ton, vom routinierten Wechsel der Erzählperspektiven, von filmartigen, harten Schnitten und klug gesetzten Vor- und Rückgriffen. Sie streben, trotz ihrer dokumentarischen Erdung im Alltag, immer auch nach einer existentialistischen Note - ganz so, als ob von Schirach nicht nur von der blanken Faktizität seinen Aktennotizen und der eigenen Kaltschnäuzigkeit, sondern auch vom magischen Minimalismus eines Raymond Carver fasziniert wäre. Denn am Ende, das wissen wir alle, sind die Dinge tatsächlich so, wie sie sind - und gleichzeitig ganz anders. "Sie wollten es so. Es war einfach da gewesen, es gab keine Erklärung."