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Christiane Rösinger Berlin

Ist Musikerin (Lassie Singers, Britta) und Autorin. Sie schreibt aus dem Leben der Lo-Fi Boheme.

31. 7. 2010 - 14:25

Nicht so anti sein!

Weil Berlin jedes Jahr mehr Touristen anzieht, bleibt den Stadtbewohnern nur eines übrig: Tourist spielen. Auf in die Mitte Berlins!

Berlin ist ja im Sommer so schön, heißt es. Das liegt aber nur daran, dass der Winter hier besonders schlimm ist, da kann es im Sommer ja nur besser sein. Die Sommermonate sind schwierig, weil Berlin jedes Jahr mehr Touristen anzieht und man sich schließlich in der eigenen Stadt als Massentourist fühlt.

Hat man sich letztes Jahr noch über Pub Crawls, torkelnde Junggesellenabschiedsgruppen und Fat Tire Tours aufgeregt, lassen einen diese geführten Sauf - und Erlebnistouren inzwischen kalt, solange sie nicht durch die eigenen Bezirke gehen. Aber dieses Jahr hat es auch endgültig Kreuzberg erwischt, die Gegend am Schlesischen Tor ist zum Studenten- Ballermann verkommen. Der Easy-Jet-Set zieht
hier in Horden zu den Hot Spots zwischen Indie- und Freizeitkultur, zwischen Watergate, Magnet Club und Lido, zum Club der Visionäre, zum Badeschiff, zum Abhängen an der Spree.

Aber man darf sich nicht reinsteigern! Nicht so anti sein! Da muss man die Plätze und Bars, die man vor vielen Jahren selbst entdeckt hat, im Sommer eben meiden und als Gegengift selbst Tourist spielen.
Also auf zum Sonntagsausflug in die Mitte Berlins, ins Herz der Finsternis, zum Schlossplatz, wo die Reisebusse im Minutentakt halten und die Menschenmassen auf die Ausflugsboote an der Spree verladen werden.

Palast der Republik

Palast der Republik

Der Palast der Republik wurde 1951 als Kulturpalast anstelle des gesprengten Stadtschlosses gebaut.

Der Berliner Schlossplatz hat eine sehr wechselhafte Geschichte. Das alte Stadtschloss wurde im Krieg halb zerstört und 1950 von der DDR-Regierung als Symbol des deutschen Militarismus und Adels gesprengt.
An seiner Stelle wurde 1976 der "Palast der Republik" eröffnet, ein Kulturzentrum mit Restaurants, Bowlingbahn, einer Konzertbühne, auf der internationale Stars auftraten.

Christiane Rösinger

Bis 2009 wurde der Palast Stück für Stück abgetragen, dann ein Rasenstück auf die Leerstelle gepflanzt Die archäologischen Ausgrabungen samt ihren Zäunen und Absperrungen machen aus Berlins Mitte einen recht unwirtlichen, unwirklichen Ort. Vom Schloss gibt es es an dieser Stelle vorerst nur ein Modell. Das sinnloseste Gebäude der Stadt: Eine Aussichtsterasse mit Aussicht auf ein Rasenstück.

Nach der Wiedervereinigung wurde der Palast wegen Asbestverseuchung geschlossen, nach einer Debatte um Sanierung oder Abriss dann in einem Akt der Siegerjustiz gegen den Willen der Bevölkerung abgetragen. 2002 beschloss der Bundestag den Wiederaufbau des alten Stadtschlosses als "Humboldt-Forum", samt einer barocken Fassade im Retroschick. Das historisierende Prestigeobjekt war von Anfang an umstritten, laut einer Umfrage sind 80 Prozent der Berliner gegen den 552 Millionen teuren Bau.
Zum Glück kam die Finanzkrise - so eine Staatsverschuldung hat eben auch ihr Gutes: Das Schoss wird bis 2014 erst mal nicht gebaut.

Baustelle in Berlin

Christiane Rösinger

Nun kann man sich am Charme der leeren Mitte erfreuen. Zwischen einem großen Rasenstück, aufgeworfenen Erdhaufen und Schautafeln steht jetzt das sinnloseste Gebäude Berlins - eine Aussichtsplattform. Die "Humboldt-Box", ein 20 Meter hoher temporärer Bau, sollte während des Schlossaufbaus Aussicht und Information zur Baustelle bieten. Von der Terasse aus kann man die bizarre Aussicht auf ein Rasenstück und eine leere Fläche, auf der die Berlinbesucher desorientiert herumlaufen, bewundern.