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Elisabeth Scharang

Geschichten über besondere Menschen und Gedankenschrott, der für Freunde bestimmt ist.

29. 7. 2010 - 16:55

Jugendzimmer-Sommerreihe: Ein Blick nach vorne

Karl Heinz Gruber, vergleichender Erziehungswissenschaftler, bereiste die Klassenzimmer der Welt und erzählt über seine Feldforschung in Japan, Finnland und Frankreich.

Jugendzimmer-Spezial-Sommerreihe:
"Vier mal nach vorne geschaut. Ein Blick auf die Welt, wie es sie noch nicht gibt"

30.7. Elisabeth Scharang im Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler Karl Heinz Gruber

6.8. Claus Pirschner diskutiert mit dem Ökologen und Naturschützer Ulrich Eichelmann über die Umwelt im Jahr 2030

13.8. Elisabeth Scharang im Gespräch mit dem Wirtschaftsforscher Stefan Schulmeister.

27.8. Claus Pirschner befragt den Politikwissenschafter Vedran Dzihic über Demokratie und Demokratieverständnis in Europa in zwanzig Jahren

jeweils Freitag von 19 bis 20.30 Uhr

Eigenartig, dass die Welt sich den letzten zwanzig Jahren in Sachen Kommunikationstechnologien so rasant entwickelt hat, aber LehrerInnen an Schulen und Universitäten nach wie vor Frontalunterricht praktizieren - genauso wie vor hundert Jahren. Karl Heinz Gruber unterbricht mich. Er müsse mich dahingehend korrigieren: das sei zwar in Österreich immer noch weit verbreitet, aber der Rest Europas gehe hier schon seit langem andere Wege. Da werde nach folgendem Prinzip unterrichtet: ein Drittel mit der Klasse, ein Drittel in der Kleingruppe, ein Drittel mit sich alleine (und dem Computer). Und damit sind wir mitten im Thema: Die meisten OECD Länder, darunter Italien, Frankreich, Japan, Kanada, Spanien und alle skandinavischen Länder, haben seit den 60iger Jahren die Gesamtschule eingeführt. Warum ist dieser Schritt bei uns so schwierig? Das Problem sei ein ideologisches, meint Gruber. "Die ständische Gesellschaftsvorstellung des 19. Jahrhunderts behauptet, dass sich Kinder im Alter von zehn Jahren als zukünftige GymnasiastInnen oder Nicht-GymnasiastInnen identifizieren ließen und daher auch jeweils eine eigene Schulform mit einem eigenen Lehrplan und jeweils unterschiedlich ausgebildeten LehrerInnen bräuchten." Die Realität ist, dass sich die AHS-"Auslese" in Österreich weitgehend auf eine soziale Selbstauslese beschränkt.

Schulklasse mit Mädchen, Finger heben

APA/HELMUT FOHRINGER

Österreichs Schulen: sozial blind. Österreichs SchulpolitikerInnen: unbelehrbar.

Es gibt zahlreiche Hinweise, dass österreichische Schulen sozial selektiv funktionieren und das Begabtenpotential der Arbeiterschicht und vor allem von Kindern mit Migrationshintergrund nur unzureichend ausgeschöpft und gefördert wird. Aber es sei schwer, den Nachweis zu erbringen, erzählt Gruber. "Die österreichische Schulstatistik ist skandalös und 'sozial blind'. In Frankreich zum Beispiel kann man mühelos über eindrucksvolle Verfahren Chancengleichheit oder -ungleichheit sichtbar machen. Und die Ergebnisse üben einen massiven Handlungs- und Rechtfertigungsdruck auf die BildungspolitikerInnen aus."" Hat man deshalb keine wirksamen Forschungsmethoden in Österreich, um sich nicht für einen jahrzehntelangen Irrweg in der Bildungspolitik rechtfertigen zu müssen? Mit welcher Arroganz setzen sich österreichische BildungspolitikerInnen seit den 50iger Jahren über alle internationalen Strömungen und Erkenntnisse hinweg und gehen einen Weg in die Sackgasse - Hand in Hand mit Deutschland?

Wie machen es die anderen? Eine Reise durch Frankreich, Japan und Finnland.

Im Alter von drei Jahren besuchen die kleinen Franzosen und Französinnen die Ècole maternelle. Der französische Staat übernimmt die Finanzierung dieser Vorschulerziehung, die dem Bildungsministerium unterstellt ist. Hier werden keine Kindergartentanten und -onkeln beschäftigt, sondern Lehrer und Lehrerinnen, die eine universitäre Ausbildung und ein pädagogisches Fachstudium haben. Nahezu 100 Prozent der Kinder besuchen diese Vorschule. In diesem Zusammenhang darf man nicht vergessen, dass so auch das Thema Kinderbetreuung und berufstätige Mütter für alle gut gelöst wird!

In den japanischen Grundschulen ist jede Klasse in mehrere "han" gegliedert: Gruppen von fünf, sechs Kindern, die für einander verantwortlich sind, die einander helfen und gemeinsame Aufgaben erledigen müssen. Der Lernfortschritt ist vom Zusammenhalt der Gruppe abhängig. Alle japanischen SchülerInnen lernen ein Musikinstrument, es gibt eine ausgeprägte Sozialerziehung und LehrerInnen, die sich persönlich für das Lernziel der SchülerInnen verantwortlich fühlen. Die unerbittliche Leistungsobsession, die sich später wegen der Uni-Aufnahmeprüfungen abspiele, sei in der Grundschule nicht zu spüren, erzählt Gruber, der ein paar Monate die japanischen Schulen vor Ort studiert hat.

Schweden war das erste Land, das 1962 sein Schulsystem nach jahrelanger Grundlagenforschung in ein Gesamtschulsystem umgebaut hat. Bis zum Ende der neunjährigen Schulpflicht wird nicht selektiert, sondern durch ein Kurssystem differenziert. Schwedens LehrerInnen sind keine weisungsgebundenen BeamtInnen, sondern verstehen sich als Fachleute. Und Englisch wird nicht als Fremdsprache sondern als Kernfach geführt. Überflügelt wurden die Schweden in den letzten Jahren allerdings von den Finnen. Die haben mit einer außerordentlichen Lehrerausbildung das Niveau noch gehoben. Der Lehrerberuf ist in Finnland so attraktiv, dass man es sich leisten kann, nur das ambitionierteste Zehntel der Bewerber zuzulassen.

Das Gespräch mit dem vergleichenden Erziehungswissenschaftler Karl Heinz Gruber in einem Jugendzimmer-Spezial am 30.7. von 19 bis 20.30 Uhr.

Nach dem Exkurs durch internationale Bildungssysteme mit Karl Heinz Gruber verstehe ich die österreichische Klassenzimmerrealität überhaupt nicht mehr. Und es bleibt mir in diesem Moment nur eine unglaubliche Wut auf konservative und hinterwäldlerische Bildungssprecher aller Fraktionen und Gewerkschaften, die sich mit irrationalen Argumenten gegen längst notwendige Reformen stellen.