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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

27. 7. 2010 - 20:17

Vor der Wand, nach der Mauer

Am Tag, an dem die Berliner Mauer fiel, stand ich den ganzen Tag mit dem Gesicht zur Wand. Zehn Jahre später verfiel ich dem Funkeln einer bunten Welt. Jetzt fand ich sie in Wien wieder. Warum die Österreicher oft hassen, was mir so wichtig ist, verstehe ich nicht.

An den 9. November 1989 erinnere ich mich gut. Ich saß im Hof unseres Kindergartens und zeigte vor den Kindern auf das hohe Gebäude des Bezirkparteihauses. Die verspiegelten Fenster des stalinistischen Barockhauses reflektierten ein paar verlorene Sonnenstrahlen. „Schaut“, sagte ich zu den Kindern „so ein großes Haus und drinnen nur Leute, die in ihren Büros sitzen und mit den Beinen wippen und die Daumen drehen“. Die Kindergartentante hörte meine Kritik an der sozialistischen Verwaltung. Sie wurde ganz blass, schob rasch ihren Zeigefinger vor den Mund. „Pscht!“ Flugs vertrieb sie die Kinder, gab mir eine schallende Ohrfeige. Zur Strafe ließ sie mich den Rest des Tages mit dem Gesicht zur Wand in der Ecke stehen. In mir kochte es! War es doch mein Papa gewesen, der das genau so gesagt hatte! Und er hatte doch immer Recht! Doch es änderte nichts. Ich stand da, Gesicht zur Wand. Die Tante verbot den Kindern, sich mir zu nähern. Auch Essen gab es an diesem Tag für mich keines. Damals lernte ich, Autorität zu hassen. Am Abend dieses Tages fiel die Berliner Mauer, am nächsten Tag hatten wir frei.

graffiti auf der berliner mauer - bruderkuss

backkratze - flickr.com/backkratze/

Bunte Welt

Genau zehn Jahre später sah ich die Mauer zum ersten Mal. Meine Mutter hatte eine Stelle im diplomatischen Dienst in Berlin bekommen und mein Bruder und ich zogen mit ihr nach Deutschland. Damals sah ich auch zum ersten Mal in meinem Leben einen westlichen Supermarkt. Welch Wunder: Zehn Sorten Brot! 20 Sorten Käse! 30 Sorten Limonade! Ich kam aus dem Staunen nicht heraus und irrte wie verzaubert zwischen den Regalen umher. Ich lief stundenlang durch Kaufhäuser, probierte Sportschuhe. Ließ mich von den Lichtern der Großstadt verführen. Aber nicht nur die Kaufhäuser machten mein Berlin zu einer bunten Welt: Die bulgarische Botschaft befindet sich an der Ecke Friedrichstraße/Leipzigerstraße, nur 200 Meter weiter ist der Checkpoint Charly. Seit der Wende wurde der Botschaftsblock vermietet und meine Nachbarn stammen aus aller Herren Länder. Beim Italiener nebenan gab es regelmäßig Pasta. Guiseppe sang beim Kochen Rino Gaetanno und erfüllte all meine Klischees eines richtigen Südländers. Der Mongole, der ziemlich kräftig gebaut war, half uns einmal mit dem Tragen unserer Waschmaschine. Die Hälfte meiner Schulkameraden stammte aus der Sowjetunion und ich lernte schnell, auf Russisch zu fluchen. Mit den Kindern meiner kurdischen Nachbarn kickte ich täglich im Innenhof und ehrlich gesagt – gewonnen habe ich nie.

Damals war Berlin dabei, sich zu einer Weltmetropole zu entwickeln. Ich fühlte mich als wichtiger Teil dieses Systems. Vergessen waren Krieg, Europas Teilung und das Ducken vor selbsternannten Autoritäten.

In dieser Zeit sah ich auch zum ersten Mal den Film „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders. Ich lernte, die immer noch offenen Narben des eisernen Vorhangs zu fürchten und meine Freiheit zu schätzen.

Wiener, was ist mich euch?

Heute, 20 Jahre später, sprießen auch in Sofia Shoppingmalls wie Pilze nach dem Regen. Sie sind voll mit den neusten Waren und Wundern. Madonna hat vor kurzem im Nationalstadion von Sofia gesungen. Bulgarien ist Mitglied der EU, die Chancen für eine gute Zukunft und einen fairen Job konnten besser nicht sein. Nur eines fehlt mir dort: Das bunte Miteinander. Deshalb zog ich nach Wien. Wie wütend war ich als ich begriff, wie viele das Multikulturelle hier hassen! Unwillkürlich sah ich vor mir die Kindergartentante, die mich mit einer schallenden Ohrfeige ins Eck verbannt hatte. Hey Leute! Was ist los mit euch? Es ist doch wunderschön, dass so viele verschiedene Menschen zu euch kommen! Jeder hat ein Gesicht, eine Geschichte. Jeder hat Träume. Das vereinte Europa war vor 20 Jahren nur ein Traum. Und damals im Kindergarten, in dieser Ecke, habe ich geträumt, dass auch diese Wand fällt.