Erstellt am: 25. 7. 2010 - 02:25 Uhr
Im Zauberwald der Tiere
Der Weg in einen großen Wald bei Dunkelheit wird von vielen als ein beängstigendes Erlebnis geschildert. Sobald man sich zu weit vorwagt, ähnelt das Heer an Bäumen im geifernden und dunklen Maul der Nacht einem Labyrinth, in dem Schritte in Sackgassen und Richtungen ins Leere führen. Das Knacksen des Geästes und die nächtlichen Geräusche der Tiere sind wie eine kalte Hand, die einen ruckartig packt. Man ist ein Gefangener in einem Labyrinth. Allein in der Dunkelheit braucht es einen, der den Weg kennt, mit seiner sirenenhaften Stimme die Richtung vorgibt.
Jón Þór "Jónsi" Birgisson, der König der Kobolde, nimmt bei seinem ersten Solo-Auftritt in Wien sein Publikum an die Hand, um es durch den Wald zu führen. Hinter dem Sigur Rós-Sänger versammelt sich ein Quartett an Musikern vor einer Leinwand, auf denen Impressionen von 59 Productions von Wäldern, Tieren und Feuer zu sehen sind. Die Mise en scène erinnert an Bilder aus "Die Reise ins Labyrinth" oder Szenen aus "The Storyteller" und Grimms Märchen. Und die Reise ist ähnlich fantasievoll.
Niko Ostermann
Asche zu Asche, Wolf und Reh
Alle Fotos von Niko Ostermann
Die Erwartungen an diesen Abend sind hoch: Jónsis Debüt "Go" ist ein verspielter und farbenfroher 9-Song-Zyklus und ein durchaus willkommener Füller, während die restlichen Mitglieder von Sigur Rós ihren Vaterpflichten nachgehen. Bereits im letzten Jahr bekam der geneigte Fan mit "Riceboy Sleeps" einige neue Songs, allerdings durchwegs instrumental und daher ohne Jónsis markante Stimme, dafür aber eine erste Zusammenarbeit mit Jónsis Freund Alex Somers, die nun auch auf "Go" weitergeführt wird. Die Wiener Arena ist also ausverkauft. Das Stage-Design besteht lediglich aus einigen Scheinwerfern und bereits erwähnter Zauberwald-Leinwand.
Niko Ostermann
Niko Ostermann
Hierzu muss man sagen, dass vor allem die Anordnung der Scheinwerfer im Rundkreis eine intime, fast schon entblößende Stimmung erzeugt, und das obwohl Jónsi einen Großteil des Sets im Dunkeln verharrt. Die ersten leichten Zupfer an der Akustikgitarre zu "Stars In Still Water", einem Song, der nicht auf "Go" zu finden ist, klingen sofort verführerisch lieblich. Der Mann singt auf Englisch, der Muttersprache des Pop, verträumt und somnanbul: "I am awake, the only one awake".
Dann bei "Hengilás" die ersten isländischen Sprachfetzen, die sich überraschend stimmig mit Jónsis Englisch vermischen. Auf der Leinwand schwärmt inzwischen ein Heer an orangenen Schmetterlingen aus. Dazu Xylophon-Klänge, die berühmte Cello-Säge und Keyboards, wohin man blickt. Jene, die sie spielen, sitzen manchmal mit dem Rücken zum Publikum und richten ihren Blick zur Leinwand. Dort, wo nach "Icicle Sleeves" zu meinem Lieblingssong "Kolniður" die Tiere des Waldes aufmarschieren: Reh, Uhu, Adler und Wolf. Alle markiert auf einem Pergament, das mit Fortdauer des Songs zu brennen beginnt. Das Feuer verbreitet sich auf der Leinwand. Am Ende springen sich Reh und Wolf an, verschmelzen, werden zu Asche. Und da ist sie wieder: Diese sirenenhafte Stimme, die einen immer wieder packt, all die Fehler und Fehltritte brach legt, Vergebung verspricht, uns wie ein nacktes Baby zurücklässt, mutterlos, kalt und ohne Decke, als wären wir gerade erst geboren.
Niko Ostermann
Nackt und ewig gefangen
Es fällt schwer über die Musik eines Künstlers zu sprechen, die eigentlich nicht mit Worten zu beschreiben ist. Das ist wohl auch der Grund, warum Jónsi selbst nicht gern über seine Musik spricht. Das wäre so, als würde man das Drehbuch zu einem Film mitliefern. Das würde die Magie nehmen. Obwohl an diesem Abend eindeutig die durchgehende Magie eines Sigur Rós-Auftrittes fehlt, blitzt sie in einigen Momenten doch auf. Etwa bei den ersten Klavierklängen von "Tornado", die mich immer verdächtig an "Pyramid Song" erinnern. Oder davon der Übergang zu "Sinking Friendship" oder auch das Doppel-Hit-Gespann von "Go Do" und "Boy Lilikoi".
Ein ausführliches Interview mit Jónsi ist in FM4 Festivalradio (13-17) zu hören.
Es wird häufig diskutiert, ob Jónsis Solo-Songs so etwas wie die optimistischere Version zu Sigur Rós sind. Im Interview bestätigt Jónsi, dass "Go" vor allem aufgrund seiner überdrehten Elemente, die "over the top" sind, funktioniert. "Go Do" und "Boy Lilikoi" sind dafür die besten Beispiele: Songs, bei denen im Publikum gehüpft, getanzt und eifrig mitgesungen wird, was bei Sigur Rós ja keine Selbstverständlichkeit ist.
Niko Ostermann
Niko Ostermann
Am schönsten an diesem Abend sind aber jene Momente, in denen das Menschliche durchkommt, das den Mythos Jónsi, der sich zwar gern als eine Art Fabelwesen inszeniert, aber wohl kaum als solches behandelt werden will, durchbricht. Etwa bei "Animal Arithmetic", als wirklich jeder außer Jónsi der festen Überzeugung ist, jetzt käme das unveröffentlichte Stück "New Piano Song". Rasch werden wieder die Instrumente gewechselt, damit die Reihenfolge aufrecht bleibt. Dazu Spinnen, die im Hintergrund über die Leinwand krabbeln und brennende Zündhölzer, Spielkarten und Briefmarken auf ihren Rücken tragen. Die Spinnen verlassen das sinkende Schiff. Die Tiere des Waldes verlassen den Wald, sie spüren das Unwetter schon jetzt.
An diesem Abend kann übrigens jeder Musiker alles spielen, was echt faszinierend ist. Alex Somers spielt etwa Keyboard und Gitarre und der wirklich hervorragende Drummer Þorvaldur Þór Þorvaldsson beeindruckt mit seinen Schlägen, die so flink wirken, als sei er eine Comic-Figur. Jónsi selbst wechselt von Gitarre zu Klavier, sampelt seine Stimme und baut damit einen sirenenhaften, sphärischen Klangteppich, dünn wie Eis.
Niko Ostermann
Nach nur vierzehn Songs wird das reguläre Set, in dem keine Sigur Rós-Stücke vorkommen, mit zwei Zugaben beendet: "Stickes And Stones" vom "How To Train Your Dragon"-Soundtrack und das furiose "Grow Till Tall", für mich das beste Stück des Abends. Man muss sich vorstellen: Jónsi, nun mit einem prachtvollen Federschmuck auf dem Kopf, beginnt zu singen, während es hinten auf der Leinwand zu regnen beginnt. Der Wind bläst aus Osten, leichter Nieselregen. Dann kommt dieser unglaubliche Endteil des Stückes, in dem er "You´ll know" immer wieder wiederholt, auf der Höhe seiner Stimme, falsett, Kirchengesang, während es immer stärker regnet, der Sturm beginnt, die Bäume werden entwurzelt, die Lichter in der Halle flackern, Blitze, Donner, Jónsi kniet, hört sich selbst doppelt, dreifach, vierfach, es wird kälter, es wird eisig, wir werden wieder nackt entblößt, Gänsehaut.
Am Ende, als sich die ganze Band vorm Publikum verneigt, ziehe ich den Reißverschluss meiner Jacke hoch. Ich erinnere mich an die Szene in "Die Verurteilten", als im Gefängnistrakt ein Häftling unerlaubterweise eine italienische Arie über die Lautsprecher spielt. Keiner der Mithälftlinge verstand von dem Gesungenen auch nur ein Wort. Auch wenn Jónsi jetzt auf Englisch singt, es bleibt ähnlich universal wie früher. Wir sind immer noch die Gefangenen und alles was uns bleibt ist seine sirenenhafte Stimme, die uns durch den Wald leitet. Und die Hoffnung.
Niko Ostermann