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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

23. 7. 2010 - 16:13

Ein dreifach Hoch auf die Milchstraße!

Von Kurt Vonnegut, dem Meister der Dystopien, wird nun posthum eine großartige Kurzgeschichtensammlung veröffentlicht. Mit sprechenden Ameisen und lügenden Automaten. Und 42.

Dieser Brief ist salbungsvoller Kack, zum Bersten voller Selbstmitleid. Aber er ist die Art von Brief, die Schriftsteller zu schreiben scheinen, und seit ich bei G[enerel] E[lectric] weg bin, bin ich, wenn schon kein Schriftsteller, dann gar nichts.
Immer der Deine, Kurt, Gestörte Persönlichkeit.

Kurt Vonnegut - Ein dreifach Hoch auf die Milchstraße

Kein & Aber

Kurt Vonnegut: "Ein dreifach Hoch auf die Milchstraße: Vierzehn unveröffentlichte Geschichten und ein Brief" ist 2010 in deutscher Übersetzung von Harry Rowohlt beim Verlag Kein & Aber erschienen.

Dieser Auszug stammt aus einem Brief von Kurt Vonnegut an seinen Freund Harris Miller, der am Ende der Kurzgeschichtensammlung "Ein dreifach Hoch auf die Milchstraße" als Epilog fungiert. Er ist die Hinterlassenschaft eines Mannes, der als Freidenker, Humanist und Atheist bekannt war und die Menschen so sehr liebte, dass er sie nur noch belächeln konnte. Kurt Vonnegut starb am 11. April 2007 im Alter von 84 Jahren an den Folgen einer Kopfverletzung. Seinen eigenen Tod hätte der zynische Realist wohl als Pointe seines Lebens verstanden.

Eines seiner Vermächtnisse ist nun diese auf Deutsch übersetzte Sammlung von Geschichten über Sonderlinge, Mörder, Räuber, lügende Apparaturen und psychotische Hypnotiseure. Alle Texte stammen aus seinem Nachlass und erzählen von ähnlich "gestörten Persönlichkeiten" wie Vonnegut eine war.

Von mörderischen Hypnotiseuren und Privatclubs

In einer Erzählung mit dem Titel "Spiegelkabinett" machen sich die zwei Inspektoren Carney und Foltz auf den Weg zu einem Hypnotiseur. Dr. Hollomon Weems ist der Hauptverdächtige in fünf Mordfällen. Der Arzt wird beschuldigt, reiche Witwen um ihr Geld gebracht und anschließend ermordet zu haben. Carney und Foltz sind Stümper, hoffen auf ein suggestives Schuldbekenntnis des Doktors, der aber seinerseits sein Handwerk versteht. Er verwickelt die beiden Polizisten in ein diabolisches Gespräch, bis sie ganz langsam seiner Hypnose verfallen.

Schon nach wenigen Minuten sind Carney und Foltz nicht mehr Herren ihres Willens. Sie erzählen Weeds wehrlos von ihren Ermittlungen, die dieser wiederum in eine ganz andere Richtung lenkt. Er überzeugt die Inspektoren, dass sein Name eigentlich "Rumpelstilzchen" sei und sie dies am besten gleich am Präsidium melden. Dazu überreicht er ihnen eine Handvoll Nichts, mit dem sie dann ihren Polizeiobermeister anrufen. Während Weeds die beiden dazu zwingt, sich selbst mit Handschellen anzuketten, erklärt er ihnen, dass er die Witwen nicht nur ermordet, sondern ihnen dabei auch ihr Seelenheil geschenkt hätte. Sie seien "durch ein Spiegelkabinett" gegangen, haben dort ihre Zuversicht, Hoffnung und Träume nach dem Tod ihrer Ehemänner wiedergefunden. Und nun, da Carney und Foltz sowohl physisch als auch psychisch Gefangene wären, sei nun die Zeit gekommen, dass auch sie durch die Spiegel gehen.

Berlin Bezirke - Spiegelkabinett in Tegel

Berlin Bezirke - Spiegelkabinett in Tegel

Spiegelkabinett

Ein ähnlich gruseliger Zeitgenosse begegnet uns auch mit Ed Luby. Ihm gehört eines der feinsten Steak-Häuser der Stadt, ein High-Society-Treff für Politik, Kultur und Sport, aber auch ein jährlicher Ort für das Ehepaar Harve und Claire Elliott, um ihren Hochzeitstag zu feiern. Bis auf heute: Luby hat sich zu einem wütenden Joe Pesci entwickelt und sein Steakhaus zu einem Club umfunktioniert, in dem man nur noch Einlass findet, wenn man reich oder berühmt ist oder Lumy gut zu Gesicht steht. Denn Luby hat alles und jeden in der Stadt gekauft und die Elliotts sind bestenfalls Ameisen für ihn. Daher werden sie nicht nur vor seinem Lokal verprügelt, sondern es wird ihnen auch noch ein Mord angehängt, den eigentlich Luby selbst begangen hat.

Joe Pesci in Casino

Universal

Joe Pesci in "Casino" alias Ed Luby von "Ed Luby´s Steak House"

It´s the End of the World as we know it (and I feel fine)

Wer "Ein dreifach Hoch auf die Milchstraße" (Original: Look at the Birdie) liest, wird unweigerlich an Kurzgeschichten von Stephen King, die skurrilen Erzählungen von Douglas Adams oder die Folgen der Twilight Zone erinnert. So sehr diese Geschichten die Bezeichnung "Science Fiction" verdienen, so sehr sind sie eigentlich der Versuch, sich dem Grauen der Gegenwart über den Umweg der Zukunft zu nähern. Hier wird von einem Erfinder erzählt, der eine Maschine entwickelt, die einem kleine Notlügen und Geheimnisse verrät. Die Moral: Zuviel Wissen kann auch schaden. Oder es wird von der Begegnung mit einem Fremden in einer Bar erzählt, der einem anbietet jeden zu ermorden, den man je gehasst hat. Wenn man auf den Deal nicht eingeht, würde es einen selbst das Leben kosten. Über allem steht Vonneguts unverwechselbarer Blick auf das Leben und Leiden, das er nur selbst zu gut kannte, vom Selbstmord seiner Mutter bis zur Gefangenschaft im zweiten Weltkrieg.

Kurt Vonnegut

Fred R. Conrad / The New York Times

Kurt Vonnegut (1922 - 2007)

Weitere Leseempfehlungen:

Kurt Vonnegut gehörte zu Lebzeiten zu jenen Autoren, die die Gesellschaft lustvoll kritisierten, aber an keine höhere Macht oder gar kollektive Fähigkeit der Menschheit glaubten, etwas zum Besseren zu verändern. Vonnegut war der Meister der Dystopien, der Skizzierung menschlicher Abgründe, oft so skurril und absurd, das sie einen auf ehrliche Weise wie mit einer Stecknadel ins Herz trafen. Romane wie "Player Piano", "Breakfast of Champions", nicht zuletzt sein größter, teils autobiografischer Erfolg "Slaughterhouse Five", das von seiner Gefangenschaft im zweiten Weltkrieg in einem Schlachthaus in Dresden erzählt, beschreiben die ewige Anstrengung der Menschen nach Verbesserung und Modernität, um dabei sang- und klanglos an sich selbst zu scheitern. Er war ein Meister der Selbstironie, sei es bei der eigenen Einschätzung ("Do not place me in literary history!") oder in der Bewertung seiner Romane mit Schulnoten ("Breakfast of Champions" bekam nur ein Befriedigend). Herrlich erfrischend und offen auch seine Herangehensweise an Kurzgeschichten, die ich mir hier erlaube kommentarlos zu zitieren.

  • Use the time of a total stranger in such a way that he or she will not feel the time was wasted.
  • Give the reader at least one character he or she can root for.
  • Every character should want something, even if it is only a glass of water.
  • Every sentence must do one of two things - reveal character or advance the action.
  • Start as close to the end as possible.
  • Be a Sadist. No matter how sweet and innocent your leading characters are, make awful things happen to them - in order that the reader may see what they are made of.
  • Write to please just one person. If you open a window and make love to the world, so to speak, your story will get pneumonia.
  • Give your readers as much information as possible as soon as possible. To hell with suspense. Readers should have such complete understanding of what is going on, where and why, that they could finish the story themselves, should cockroaches eat the last few pages.

"Ein dreifach Hoch auf die Milchstraße" ist eine großartige, weil wahnwitzig ehrliche und mitreißende Sammlung von Gute-Nacht-Geschichten für erwachsene Kinder. Für all jene, die die Welt genug lieben, um ihr beim Untergang zuzusehen. It´s the End of the World as we know it. And I feel fine? Die Antwort lautet auch hier 42.