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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

22. 7. 2010 - 13:20

Krise und Schnaps

Mein Großvater sagte immer: "Der Bulgare hält Schläge aus, Hunger und ..." - Hier verschlucken die Abergläubischen das Wort "Tod" oder sagen stattdessen "Schnaps". Vom Schnaps-Sagen zum Schnaps-Trinken ist es nicht weit. Eine Kulturgeschichte.

Im bulgarischen Outback des Balkangebirges, wo der Balkan am balkanischsten ist, liegt das Dorf Lometz. Hier sehen die Leute vieles ganz locker. Einfach, weil alle ruhmreichen Bulgaren schon lange tot sind und sie, die Lebenden, Ruhmlosen von Lometz, Wohlstand nicht einmal aus dem TV kennen. Stattdessen haben die Einwohner von Lometz Mincho und sein Lebensmittelgeschäft, das bei Bedarf auch zur Dorfbar wird. Mincho verkauft nur Alkohol, Zigaretten, Waschmittel, Limonade und Schokowaffeln Marke "Moreni". Den "Rakija", Schnaps aus Trauben, brennt Mincho selbst. Schnapsbrennen und Destillieren hat Mincho von seinem Vater Vassil gelernt. Dieser hatte die Funktion des Dorf-Traubenschnaps-Brenners von der Sozialistischen Republik Bulgarien verliehen bekommen, und zwar als Lohn für freue Dienste als Leibwächter des Genossen Georgi Dimitrov, des Anführers der Bulgarischen Sozialistischen Revolution.

Ein alter Mann und eine alte Frau in einem bulgarischen Dorf

Todor Ovtcharov

Geld wird sich schon finden

Die Revolution ist lange her, der Sozialismus ist vorbei, Kapitalismus und globale Wirtschaftskrise haben auch Lometz erreicht. Die jungen Leute strömen von den Baustellen der EU nach Lometz zurück. Sie bringen ein wenig Geld mit, ihre Zukunft endet am Rand des Waldes und nur ihre greisen Eltern freuen sich über die heimgekehrten Kinder. Geld wird sich schon finden, sagen die Alten. Arbeit wohl auch. Es gibt ja die Wälder, die Felder, den Schnaps. Und das Balkangebirge wird es sowieso immer geben.

Der Bulgare misstraut auch gerne den Banken. Im Sozialismus waren Banken nur Fassade und im Kapitalismus bringen sie Betrug und Zusammenbruch. Seitdem hortet der kluge Bulgare sein Geld im Einmachglas und versteckt es im Keller. Oder er macht es wie jener Einwohner von Lometz, den sie nur den "Kanister" nennen, der an einer Tankstelle arbeitet und sein Erspartes in einem Benzinkanister versteckt. Trotz Krise und EU-Verbot läuft Minchos Geschäft gut. Dabei kommt ihm eine bulgarische Eigenheit zupass: Der Bulgare feiert christliche und sonstige Feste nicht zum offiziellen Datum, sondern nur ungefähr dann. Dabei trinkt der Bulgare – zumindest in Lometz – noch mehr von Minchos Traubenschnaps als an anderen Tagen. Diese kleine Freiheit kann man sich im Balkangebirge erlauben.

Schafe in einem bulgarischen Dorf

Todor Ovtcharov

Wer soll sich da noch auskennen?

Zumal die Feiertage aus ideologischen Gründen sowieso durcheinander gekommen sind. Die Kommunisten ersetzten Ostern durch den 1. Mai. Weihnachten, das "Koleda" genannt wird und frei übersetzt "Schlachtfest" bedeutet, ist eigentlich die Zeit der Schweineschlachtung. Wer soll sich da noch auskennen? Wenn ein Feiertag ungefähr stattfindet, wird Minchos Geschäft zur Disco. Das Dorforchester dröhnt lautsprecherverstärkt und die vollbusige, früher mal jung gewesene Sängerin schmettert tapfer: "Ich gehe zum Sonnenstrand und trinke Cognac auf dem Sand".

Die Bühne für Orchester und Sängerin ist die Ecke mit den Todesanzeigen, die wie eine Tapete die Wände bedecken. Dies ist die Lieblingslektüre seiner Gäste, deren durchschnittliches Alter etwa 74 Jahre beträgt und die nie an einen Sonnenstrand waren oder Cognac getrunken haben. Das sind die Eltern jener Gastarbeiter, die nun nach Lometz zurückkehren und sich zu Minchos Stammpublikum gesellen.