Erstellt am: 15. 7. 2010 - 17:52 Uhr
Das schwache Geschlecht
Am Anfang des 20. Jahrhunderts staunte der französische Dichter Guillaume Apollinaire in einer seiner Erzählungen über den uralten Brauch des „Brautstehlens“. In verschiedenen Teilen der Balkanhalbinsel wird das junge Mädchen von dem Burschen, der sie mag, vom Dorfplatz entführt und schnell versteckt. Nachdem er sie geschwängert hat, kann sie stolz seine Frau werden. Das Ritual erschien dem Bourgeois schon damals ein bisschen barbarisch – doch jeder träumte insgeheim davon, an der Stelle des Jungen zu sein und das Mädchen stolz auf Händen ins Dorf zu tragen.
Heute kann vom "Brautstehlen" kaum die Rede sein. Die Männer werden einfach gewählt, sie haben kein bisschen Mitspracherecht. Und die Kriterien für diese Wahl sind keinem Mann auf dieser Welt klar. Wenn einer meint, dass er sie versteht, ist er ein Lügner. Es gibt kein stolzes „Brautstehlen“ mehr, sondern vielmehr ein „Pick-a-man-they-all-love-you“. Und so – als Teil des schwachen Geschlechts – bist du gezwungen, für jede Frau, die dir ein kleines bisschen Aufmerksamkeit schenkt, dein Leben zu opfern. In einem Song der bulgarischen Band Wickeda wird gesungen: „Ich legte mich hin vor jeden Panzer, der vorbei kam und dann zahlte ich das Taxi, damit er gut nach Hause kommt“.
Ich saß neben der Stereoanlage auf einer Party in Wien, die ganz anders war als die Parties, die ich bisher kannte. Es gab keine betrunkenen Menschen, die irgendwelche Sachen aus den Fenstern warfen. Alle verhielten sich ganz friedlich, saßen um einen Tisch herum und redeten über etwas ganz Wichtiges. Kunst, Kultur und den Weltfrieden. Ich versuchte, einen Jungen aus Australien für die bulgarische Band Panican Whyasker zu begeistern und trank ruhig meinen Whiskey, als sich Luisa neben mich setzte. Ich kannte sie als Freundin eines Freundes und wusste, dass sie aus Deutschland ist. Aus Karlsruhe. Wo Karlsruhe ist, weiß ich heute immer noch nicht ganz genau. Ob Luisa Sofia kennt, bin ich mir auch nicht so sicher. Irgendwann fing Luisa an, mich am Arm zu streicheln. Ich tat mir schwer, mit dem Australier weiter darüber zu streiten, dass U2 die schlimmste Band der Welt ist, und begriff, dass mich Luisa mag. „Ich schlafe in einem Doppelzimmer im Studentenheim“, sagte ich. „Und ich auf einem Doppelbett“, erwiderte Luisa. Es war klar, wir verließen die Party, stiegen in die Nightline und bald waren wir bei Luisa zu Hause. Ihr Zimmer sah wie ein Dschungel aus, viele Pflanzen und viele Fotos von Luisa selbst. Sie hat ein Jahr in Neuseeland verbracht und will wieder dahin.
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Ich versuche meine Socken möglichst weit weg aus dem Bett zu werfen, denn den Geruch kann selbst ich nicht besonders leiden. Luisa macht ein paar geheime Lampen an und die Atmosphäre wird romantisch. Die Musik ist Morcheeba, ganz banal eigentlich. Ich glaube, bei jeder zweiten sexuellen Erfahrung, die ich gemacht habe, war Morcheeba zu hören. Dann kommt die große Überraschung – Luisa stöhnt auf Deutsch. So etwas hatte ich noch nie gehört. Stöhnen auf Deutsch verbinde ich immer mit einem Kabelsender in Sofia, der Mitte der 90er Pornofilme aus Deutschland ausgestrahlt hat, durch die Sprüche wie „Oh mein Gott“ und „ Ja, ja, spritz mich, spritz mich“ so etwas wie Folklore zwischen den Jugendlichen in meinem Heimatviertel geworden sind.
Danach erzählt mir Luisa von Neuseeland und ich ihr von Sofia. Sie ist Anthropologiestudentin und durch mich ist Osteuropa erforscht. Nach dem kräftigen Frühstück, das mir Luisa macht, gehe ich aus dem Haus und denke mir, dass es schon Vorteile gibt, vom schwachen Geschlecht zu sein.