Erstellt am: 9. 7. 2010 - 21:37 Uhr
WM-Journal '10-80.
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Die Fakten zum Turnierfinale.
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Allem Geraune um Kraken-Paule und dem berechtigten Hype um die letzten Vier zum Trotz: da ich auch Menschen kenne, die sich über die blanke Aktualität erheben und zentrale Fragen stellen, will ich meinen Teil beitragen und nicht erst danach, sondern schon jetzt die afrikanische Perspektive ansprechen.
Dass sich Afrika organisatorisch und selbstverständnistechnisch in eine Normalität katapultiert hat, die von Schwarzsehern, Wenigwissern und Proto-Rassisten nicht mehr weggeschoben werden kann, ist eine Erkenntnis, die über den reinen Sport hinausgeht.
Dass eine der Meta-Tendenzen des Turniers eine Art Rückhol-Aktion der zweiten Generation von Afrikanern in den ersten Welten betroffen hat, ist auch deutlich über den rein sportlichen Effekt hin interessant und wird, auch in anderen Bereichen, Vorbild für einen umgekehrten Kultur-Transfer sein.
Warum sich bei dieser WM aber die südamerikanischen Teams, vor allem die der zweiten Reihe, freigespielt haben und nicht die strukturell durchaus vergleichbaren afrikanischen Verbände, das bedarf noch einer genauen Betrachtung.
Anti-Küchenpsychologie
Denn der Mainstream-Boulevard, der die organisatorische Leistung Südafrikas nicht beeinspruchen kann und auch an der spielerischen Qualität der in Europa tätigen afrikanischen Stars nicht zweifelt, versteckt genau in der sehr platten küchenpsychologischen Analyse des Auslassens der allermeisten afrikanischen Teams noch seine letzten Vorbehalte, kaschiert dort seine letzten kolonialistisch angehauchten Herrschafts-Fantasien. In diesen pseudo-mitleidig gesäuselten Phrasen der Marke "Ja, das beherrschen DIE halt noch immer nicht: Disziplin, Ordnung, Teamkultur..." fängt man die letzten Tropfen einer austrocknenden Ideologie auf.
Dieses meckernde Geschwätz ist allenthalben zu hören, jedoch kompletter Blödsinn.
Und das belege ich jetzt anhand dieser WM, ganz simpel.
Letztlich gab es nur drei europäische Mannschaften, die sich bei diesem Turnier bewährt haben. Dazu noch sechs Süd/Mittelamerikaner, die sich allesamt zurecht in den Top 10/12 einfanden.
Die anderen Europäer haben (große Namen hin, gute Quali-Leistungen her) nicht entsprochen.
Und das, obwohl die Möglichkeiten da wären.
Afrika schlägt Europa B
Der Unterschied zwischen Deutschland/Holland/Spanien und, sagen wir einmal, Frankreich/England/Italien oder auch Portugal/Serbien/Dänemark ist aber der, dass die drei Viertelfinalisten über eine ausgeprägte Philosophie und einen Masterplan verfügten, der schon länger läuft als nur eine Quali-Periode. Die anderen dachten, es genügt, wenn man die besten Spieler des Landes zusammenfängt und dann machen lässt; oder sich auf das taktische Genie eines Coaches oder die Erfahrung eines Titelverteidigers verlässt, oder auf ein paar einzelne großartige Spieler.
Das ist alles schön und gut - reicht auch oft für ein einzelnes Spiel. So ein Turnier allerdings trennt hier ganz brutal die Spreu vom Weizen. Da kommt nur der weiter, der sich über längere Zeit intensiv und antizipativ mit dieser Situation beschäftigt hat.
Nun sind die Afrikaner um nichts besser gewesen als Italien oder Frankreich oder England und die anderen (nunja, Ghana schon, die kamen weiter und haben mit Asamaoh Gyan auch einen Spieler in die Top 10-Liste der FIFA gebracht, was den anderen nicht gelungen ist). Trotzdem müssen die sich den oben zitierten Laber anhören - alles Sünden, von denen man die Europäer freispricht. Fälschlicherweise freispricht.
Denn die Fehler sind mittlerweile die exakt selben: zwischen Frankreich und Nigeria besteht, was das Desaster von Politik und Verband betrifft, kein Unterschied; Kamerun scheiterte ebenso glorios wie Italien, und der Coach der Cote d'Ivoire ist der, der zuvor bei England tätig war.
Der Vorsprung beim speziellen Fußball-Know-How
Wir haben es also mit reinen Vorurteilen zu tun, die uns weismachen wollen, dass die falsche Herangehensweise einzelner Fußball-Nationen und -Verbände etwas mit ihren Fähigkeiten, etwas mit Herkunft zu tun haben sollte.
Das einzig relevante Kriterium ist die Erfahrung, sind die über Jahrzehnte hinweg aufgebauten Ressourcen, sind Standards wie Nachwuchszentren, Trainerausbildung etc.
Da haben Europa und auch Spüdamerika im Vergleich zu Afrika einen ungeheuren Vorsprung, der sich noch mindestens ein Jahrzehnt bemerkbar machen wird.
Es geht um ganz spezielles Fußball-Know-How, nicht eines das mit Bau-, Transport- oder Logistik-Vorhaben zusammenhängt - denn da ist ja Gleichwertigkeit bewiesen worden.
So gesehen ist das Versagen von Nigeria weit weniger peinlich als das von Frankreich. Nur: im Land von Platini und Zidane kann man schnell wieder auf die Erfolgsspur zurückkommen, weil die Zutaten ja da sind. In Afrika werden sie gerade aufgebaut.
Das zur Relativierung der Kritik am afrikanischen Fußball. Man erwartet zuviel, wenn man glaubt soviel wie von den Top-3-Europäern verlangen zu können. Das ist einfach noch illusorisch.
Altkoloniale Seilschaften
Vorbildhaft kann das sein, was die Lateinamerikaner geleistet haben: da holen halbwegs gut organisierte Verbände viel aus gut sortierten Nationalmannschaften, weil sie Sorgfalt, Philosophie und System über alles stellen - wofür dann Leute wie Bielsa, Tabarez oder Martino stehen.
Und da komm ich dann eh schon zur Crux.
Zum Punkt, wo sich die afrikanischen Verbände aktuell noch am klarsten selber im Weg stehen.
Man traut dort sich und seinesgleichen (noch) zuwenig zu.
Egal ob Ghana, Nigeria, Cote d'Ivoire, Kamerun oder auch Südafrika: wichtig und richtig kann nur das sein, was der erfolgreiche Mann von weit weg zu sagen hat. Egal ob er aus dem vormals englischen oder französischen Kolonialherrschaftsgebiet kommt, oder aus einem Trainer-Exportbereich wie Ex-Jugoslawien, oder im besten Fall schon einmal Weltmeister war.
Das ist per se ja noch nicht falsch.
Das Problem beginnt erst da, wo man Respekt vor den Lehrern und das Lernen von Vorbildern mit der geistlosen Übernahme anderer Mentalitäten oder nicht praktikabler Ideologien verwechselt.
Politische Instrumentalisierung als Normalität
Und das dann auch, beim ersten Anflug von Misserfolg, alle sechs Monate wieder ändert und den Kurs dann neu ausrichtet. Nigeria ist hier ein Klassiker: dort instumentalisieren Präsident und Sportministerium den Fußball seit Jahren als populistischen Spielball, gängeln den Verband und treffen sportliche Entscheidungen. Die Maßnahme Lars Lagerbäck nach dessen verpasster Campaign für Schweden ganz kurzfristig einzusetzen, war schon blöd genug. Sich allerdings dann auch seinem schwedischen System zu unterwerfen, dass für die nigerianische Mannschaft aus vielerlei Gründen nicht seriös spielbar ist, zeigte aber, wer hier regiert: der Zufall.
In den westafrikanischen Verbänden, die allesamt politisch problematisch besetzt sind, macht man sich also von kurzfristig engagierten Schein-Star-Coaches aus Europa und Südamerika abhängig und lässt dann auch noch ein Mitregieren der großen Spielerstars zu - das bringt die angestrebte Publicity.
Wohin es führt, wenn Eto'o und Drogba bestimmen, wann, wie und wo sie spielen, hat man am Ausscheiden ihrer Teams schön mitansehen können.
Einzig die ghanesische Truppe hielt die Mecker-Fritzen (Muntari wurde diszipliniert; Appiah war zu schwach, um Ansprüche zu stellen, glücklicherweise) in Schach und verstand es ein Team-Gefüge bilden, das mit den allerbesten Teams mithalten konnte.
Der einzige afrikanische Weltmeister-Trainer
Aber auch dort ist der Trainer ein Serbe. Allerdings ein wenig bekannter, also einer, der sich in Afrika aufgrund seines Könnens und nicht wegen eines großen Namens durchgesetzt hatte.
Trotzdem ist er Nationaltrainer und nicht der Assistent des Trainers bei der WM 06, Sellas Tetteh Teivi. Tetteh war auch 2008 Assistent, als Ghana 3. beim Africa-Cup wurde und trainierte seit 2007 die U17 Ghanas, mit der er bei der U17WM 2007 vierter wurde. Danach übernahm er die U20 und wurde mit ihr im letzten Oktober U20-Weltmeister. Das war der erste WM-Titel für den Kontinent.
Tetteh tritt dieser Tage seinen neuen Job an.
Er wird Trainer einer afrikanischen Nationalmannschaft.
Von Ruanda.
Das sagt schon viel aus.
Die Ehrfurcht der politischen Eliten vor dem europäischen Gängelband ist ungebrochen. Kamerun plant ernsthaft einen inkompetenten, ausschließlich von seinem Spielernamen lebenden deutschen Trainerlehrling zu engagieren. Immerhin spricht man von einem Vier-Jahres-Vertrag für Matthäus.
Das Grundproblem aber bleibt: keine Zeit für kontinuierlichen Aufbau, politische Machinationen (die jüngsten Vorkommnisse rund um den nigerianischen Verband waren schlimm genug), Festhalten an europäischen Seilschaften und kein Vertrauen in die eigene Kraft.
Weisheit statt Selbstsicherheit
Ein gutes Zeichen ein paar Stunden nach der WM: Südafrika ernennt Pitso Mosimane zum Coach, der die Bafana Bafana zum Afrika-Cup 2012 führen soll. Ein Anfang.
Die Nordafrikaner sind da die einzigen Ausnahmen. Sowohl Ägypten (Hassan Shehata) als auch Algerien (Rabah Saâdane) werden von heimischen Legenden geleitet - erfolgreich, wie man sieht.
Bloß: die beiden sind hübsch über 60 und erst damit wohl weise genug um das Unerhörte zu dürfen.
Sellas Tetteh ist knapp über 50, muss aber nach Ruanda. Ich wünsche ihm, dass er dort alles richtig macht, zum nächsten Afrika-Cup kommt und dort alles aufmischt.
Nur ein Einzelerfolg wie dieser kann diese unheilige Denkschule der westafrikanischen Verbände beenden.
Und an denen liegt es.
Nicht an den mangelnden Fähigkeiten der Spieler eine seriöse Teamleistung zu bringen; und auch nicht an fehlenden Coaches. Der afrikanische Fußball-Fisch stinkt vom Kopf.
Jürgen Klinsmann hat es in seinem dieser Tage oft zitierten Rezept für die Engländer ja schön gesagt: "Can England recover from their poor showing in South Africa as quickly as Germany did six years ago? Yes, but they cannot just copy the German style and expect to succeed. Every nation has its own culture and specific environment as well as its own footballing identity. England have to develop their own vision and decide how they should play."
Ersetze England durch jegliche afrikanische Nation.
Die fußballerische Identität, die spezielle Kultur, die ist bereits vorhanden und angelegt: Afrika fehlen die Jahre in umsetzerischer Freiheit. Und ein Verband, der einmal vorprescht und es mit einem, seinem Tetteh probiert. Nur die Spieler nach Europa zu schicken und auf ein entsprechendes Wunder zu hoffen, wenn man die dann von stocksteifen Bertivogtsen trainieren lässt, das wird nicht reichen.