Erstellt am: 8. 7. 2010 - 16:01 Uhr
Lappenkrieg
Also hat Kraken-Paul doch recht gehabt. Das berühmte Fußballorakel hatte am Tag vor dem Spiel Unsicherheit gestreut und den Sieg der spanischen Mannschaft voraus gesagt. Und der weissagende Tintenfisch hatte - wie immer - recht.
Die Meinungen innerhalb unserer erprobten WM-Viewing-Gruppe waren im Vorfeld des Spiels geteilt. "Deutschland Weltmeister, das muss nicht sein", meinten die latent Genervten, "dann drehen die ganzen Deppen durch in ihrem Partynationalismus, dem Rumgegröle, der Hysterie und dann auch die vielen blöden Fahnen überall!" " Mein Gott", sagten die Anderen, "wenn die Mannschaft jetzt aber nun mal so gut spielt und so weit gekommen ist, warum soll sie nicht ins Finale?" So schieden sich die Geister.
Christiane Rösinger
Christiane Rösinger
Zum Spiel gestern Abend traf man sich vor einem Spätkauf in Neukölln bei dem Onkel einer Freundin mit türkischem Migrationshintergrund. Vor dem Späti hatten sich die Familie, Leute aus der Nachbarschaft und jede Menge junger Szene-Neuköllner ohne Migrationshintergrund eingefunden, die Stimmung war sehr gut. Der Kioskinhaber verteilte schwarz-rot-goldene Girlanden, die sich manche ironisch um den Hals wanden, andere ließen sie leicht peinlich berührt unauffällig zwischen den Bierbänken verschwinden. In Neukölln hatte ja der "Lappenkrieg", der Streit um die Deutschlandfahnen, inzwischen schon absurde Formen angenommen. Die linksautonome Szene hatte es sich im ewigen Kampf gegen Nationalismus und Rassismus zur Aufgabe gemacht vor allem in den migrantischen Vierteln gegen die Beflaggung vorzugehen.
In dem arabischen Teil der Sonnenallee, wo die Friseur- und Telefonläden, die Bäckereien, Shisha-Bars, Brautmoden-und Möbelshops durchweg arabisch beschriftet sind, hatte sich die Situation zugespitzt. Dort haben Ibrahim Bassal und seine Freunde vor ihrem Elektro-Shop eine riesige schwarz-rot-goldene Fahne vom fünften Stock fast bis zum Parterre hinab entrollt.
Wir sind deutsche Ausländer - der Song zum Lappenkrieg
Die Fahne wurde mehrfach abgerissen, angekokelt, geklaut. Die Besitzer stellten Nachtwachen auf, die Gegenseite rückte mit Leitern an, das Fernsehen und alle Zeitungen berichteten bundesweit. Dass die libanesischstämmigen Berliner, die seit zwei Generationen hier leben, die Aktion überhaupt nicht verstehen, und so interpretieren, dass ihnen nach den Rechten nun auch die Linken das "Deutsch-Sein" absprechen wollen, zeigt die ganze Hirnrissigkeit der Aktion.
Christiane Rösinger
Am Späti waren dann nach dem Sieg der Spanier alle recht niedergeschlagen, obwohl doch die bessere Mannschaft gewonnen hatte, Fußball nur ein Spiel ist, und der Deutschland-Fan außerhalb Kreuzberg-Neuköllns immer mehr sein hässliches Gesicht zeigte. Aber eigentlich war es eine tiefergehende Trauer, die uns erfasste, nicht wegen dem Ausscheiden der Deutschen, sondern weil die WM praktisch vorbei ist. Jetzt noch das Finale, dann ist sie endgültig vorbei die Zeit der Geselligkeit, die Zeit des auf der Straße-Hockens, des Zusammen-Fernsehens, die Zeit des melancholischen Vuvuzela-Klangs auf den Straßen. Die Zeit der Euphorie, in der es immer was zu tun, immer eine Verabredung gab. Auch die Autonomen müssen sich jetzt eine neue Beschäftigung suchen und ihre innere Leere bekämpfen. Was wird nun aus uns werden, was kommt jetzt bloß?
Wahrscheinlich das Sommerloch.