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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

8. 7. 2010 - 22:11

WM-Journal '10-78.

Ein herrliches Finale (Teil 1) - weil's mir nämlich ganz unglaublich egal ist, wer gewinnt. Weil ich's beiden von ganzem Herzen gönne. Der alten Liebe Niederlande sowieso.

Seit 1. Juni erscheint das WM-Journal zum Turnier in Südafrika - mit einer Ausgabe pro Spiel und zusätzlichen Analysen.
Hier auch in der Übersicht.

Das WM-Journal gibt es auch als Podcast, einmal täglich, gegen Mittag.

Die Fakten zum Semifinale. aktuelles zum holländischen Team.

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Es wird wohl 1972 gewesen sein. In unserem Schwarz-Weiß-Fernsehgerät. Ich habe keine Ahnung mehr, ob es live am Abend oder eine wochenschaumäßige Zusammenfassung war. In jedem Fall saß ich vor der Kiste, auf dem Teppich und starrte hinein. Denn sowas hatte ich noch nicht gesehen. Da spielten ein paar Männer in Grauschattierungen Fußball. Ich hatte das schon gesehen, live in echt, im Stadion oder auf der Pfarrwiese. Ich wusste auch um die Differenz zur Weltspitze irgendwie Bescheid: den offiziellen FIFA-Film zur WM 1970 in Mexico hatte ich mehrmals gesehen, im Kino und in Farbe, ein Stechquartett mit Foto-Motiven aus dem Turnier war mein wertvollster Besitz.
Aber das, was die Schwarz-Weiß-Männer da vorführten war anders - schneller, behender, umfassender, totaler.

Es war also wohl das 72er-Finale im Europacup der Meister. Der Gegner war Inter Mailand - aber der war völlig egal. Gespielt haben nur die anderen. Und die hießen Ajax, Ajax Amsterdam.
Ihr Leader, der Mann über den alles lief, nannte der Kommentator Kreuz, und dabei zuzelte er komisch, es klang immer wie Kreuf.

Kreuf? Kreuz? Cruyff?

Willy Kreuz kannte ich, Stürmer bei der Admira, Torschützenkönig. Der gezuzelte Kreuf war aber kein Stürmer. Er war ein Regisseur und Antreiber, der gleichzeitig vorne und hinten auftauchte und im Zentrum auch. Und er hatte Mitspieler (ich konnte sie anhand ihrer unterschiedlichen Haarlängen, Anfang der 70er waren wilde lange Locken und unglaubliche Fönwellen angesagt, recht schnell auseinanderhalten) die es ihm gleichtaten. Vor allem einer, den der Kommentator Näschens nannte (Holländer haben seltsame Namen), der war eine Art Variante von Kreuf, falls der einmal nicht wollte. Und dann war dauernd einer, den der Kommentator Grohl nannte und als Verteidiger bezeichnete, mit vorne. Und der an sich vorderste Mann, der mir als Kaiser vorgestellt wurde, war oft hinten zu sehen.

Die Mannschaft machte, dass mir der Mund offenstand.
Nicht weil ich taktisch oder strategisch irgendwas verstanden hatte, sondern weil diese Art Fußball zu spielen, das Schönste war, was es jemals zu sehen gab. Bis dorthin und wohl auch seither.
Setzt man die Athletik, das Tempo und die veränderten Umweltbedingungen in Relation, würde sich das heute immer noch ausgehen.

Näschens? Kaiser? Hülshoff? Suubier?

Kreuf, Näschens, Kaiser und Grohl waren Johan Cruyff, Johan Neeskens, Piet Keizer und Ruud Krol und zusammen mit Heinz Stuy, Horst Blankenburg, Barry Hülshoff, Wim Suurbier, Arie Haan, Gerry Mühren, Sjaak Swart, Dick Van Dijk oder Johnny Rep bildeten sie die große Ajax-Mannschaft, die den Europacup damals drei Jahre hintereinander dominierte.
Davor hatte, drüben in Rotterdam, ein Wiener Bazi namens Ernst Happel das Team von Feyenoord (mit Wim Van Hanegem, van Duivenbode, Rinus Israel, Wim Jansen und Franz Hasil) einmal zum Europa-Titel geführt. Holland war also das Zentrum, das Mekka des neuen, des totalen Fußballs.

Und ich wurde davon einfach kalt erwischt, als Kind, unvorbereitet, nicht zur Gegenwehr fähig.
Ich kann seitdem also nicht anders, als dieses Spiel zu lieben. Und diese Art Fußball zu spielen ist seitdem in den großen niederländischen Teams verankert.

Ajax oder Feyenoord? Oder nur Oranje?

Die Nationalmannschaft, seit damals ein Mix aus dem Ajax- und dem Feyenoord-Stil, sowieso.
Ajax Amsterdam, der Edel-Klub mit der seit Ewigkeiten besten Fußball-Nachwuchs-Schule der Welt ohnehin.
Feyenoord Rotterdam, das Prolo-Pendant dazu auf seine eigene roughe aber spielerisch herzliche Art auch.
Und allerspätenstens seit Ruud Gullit wurde auch der eher herzlose Werksklub PSV EIndhoven (Philips) in diese Riege aufgenommen.

Die holländische Spielweise hatte das, was heute unter Jogi Löw zurecht als große Neuerung abgefeiert wird, nämlich die Orientierung an einem durch kombinationssicheren offensiv orientierten vertikalen Fußball, seit damals verinnerlicht. Und in die Welt hinausgetragen.
Johan Cruyff hat sein Modell, seine Idee des Totaal Voetbal bei seiner wichtigsten Trainerstation weiterentwickelt: beim FC Barcelona. Dort zehrt man bis heute (auch wenn der große Johan, eine leicht beleidigte Leberwurst, unlängst seine Ehrenpräsidentschaft zurückgelegt hat) von dieser Philosophie. Die letztlich auch, spät aber doch, die spanische Nationalmannschaft übernommen hat.

Multi-Kulti oder Totaal Voetbal?

Weil die Niederländer auch die ersten waren, die den Multi-Kulti-Aspekt als befruchtend erkannten und die Spieler aus den vormaligen Kolonialgebieten forcierte, entwickelte sich eine jahrzehntelange fußballerische Überlegenheit, die holländische Fußballspieler zur Exportware Nummer 1 machten.

Seit 1974, als sich der Total Football erstmals auch in einem WM-Turnier präsentierte, zählen die Niederländer zur Weltspitze und sind Geheim-Favorit. Sofern sie sich qualifizieren - denn auch für Aussetzer sind die Genies in Orange jederzeit gut.
Da die Nationalmannschaft auch nur immer so stark ist wie die Liga, die Vereine und die Charaktere der Legionäre, war die Elftal seither immer wieder hohen Schwankungen unetrworfen. Nur ein einziger großer Titel (Europameister 1988, mit Rijkaard/Gullit/Van Basten, den Koeman-Brüdern und Arnold Mühren, Vanenburg, Wouters, van 't Schip, Aron Winter oder Wim Kieft) sonst nur große Erwartungen und viele Enttäuschungen, die in Ego-Duellen, Gruppen-Konflikten, einer gewissen Überheblichkeit, falschen Kaderzusammenstellungen und Diven-Getue ihre Ursachen hatten.

Michels, Happel oder Van Marwijk?

Die seit 40 Jahren besten Fußballspieler des Planeten, die Söhne und Enkel von Johan Cruyff haben sich jetzt, zum drittenmal nach 1974 (unter Rinus Michels, als damals deutlich bestes Team der Welt) und 1978 (unter Ernst Happel, als damals schon ganz leicht zu überreife Truppe) in ein WM-Finale gespielt.

Ihr aktueller Stil ist nur noch in Spuren-Elementen mit dem zu vergleichen, was damals Kreuf, Näschens und Kaiser, die schwarz-weiß-Männer im Europacup-Finale anzubieten hatten. Er ist ein aktueller Endpunkt einer Entwicklung, die den totalen, den unerhörten Offensiv-Fußball (den die vier Angreifer im Team Oranje 2010 immer noch und das in allerhöchstem Maße repräsentieren) neu interpretieren.
Auch das 88er-Team hatte eine strikte Vierer-Abwehr und zwei Klopfer davor (Vanenburg und Wouters), war also eher auf Kontrolle und Vorsicht konditioniert, lebte aber von der Unberechenbarkeit und Klasse seiner Angreifer.

Wenn nun Sneijder und Robben zusammen Gullit ausmachen, wenn Van Persie und Kuyt zusammen Van Basten sind...

Gullit/Van Basten oder Sneijer/Robben?

Das Gefühl, wieder als staunendes Kind vor der Kiste zu sitzen und etwas zu sehen, was ich noch nie davor so gesehen habe, ist unmöglich wiederherzustellen - aber sowas Unsinniges verlange ich auch nicht.

Mir reichen Assoziationen, kleine Bastelanleitungen für Back-Flashes, die dann die in mir vorhandenen Glücks-Hormone ohnehin ganz von selber wachkitzeln.
Und das kann im Fall von Holland eben nur Holland.