Erstellt am: 7. 7. 2010 - 21:27 Uhr
WM-Journal '10-76.
Seit 1. Juni erscheint das WM-Journal zum Turnier in Südafrika - mit einer Ausgabe pro Spiel und zusätzlichen Analysen.
Hier auch in der Übersicht.
Das WM-Journal gibt es auch als Podcast, einmal täglich, gegen Mittag.
Die Fakten zum Semifinale Spanien - Deutschland 1:0.
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So, das ist das bis jetzt, bis zur Halbzeit, ärgste Spiel dieser WM. Ich hab aus einer Art positiven Verzweiflung über die unglaubliche Spannung so viel aufnotiert wie sonst noch nie, um diesem Belauern, dieser Leise, dieser Stille im Stadion irgendwie zu begegnen.
Die Vorsicht, der Respekt beider Teams voreinander ist körperlich zu greifen, die unfaßbare Paß-Sicherheit der Spanier gibt ihnen die Überlegenheit, den Lead, in diesem Spiel, das der verlieren wird, der zuerst die Nerven verliert. Denn weder will Spanien in deutsche Gegenangriffe laufen, noch mag sich Deutschland von spanischem Tiqui-Taca mürbe klopfen lassen.
Das deutsche Spiel drohte jedoch manchmal in die alten Muster (von denen Siegenthaler hier schön erzählt) zu kippen: planlose lange Bälle nach vorne, das ist das Gegenteil des angewandten Löwismus, der ja eine Art spanisches Kombinationsspiel verlangt.
Aber das geht sich gegen die heute in einem 4-2-1-2-1 gewandeten Rot-Blauen nicht aus. Iniesta und vor allem der junge Pedro zwicken offensiv rund um den sowieso brandgefährlichen Villa, dazu machen Xavi und Xabi, selbst der sonst unsichtbare Busquets Druck durch ihre Zuspiel-Präzision und die Fähigkeit keinen Ball verloren zu geben.
Gefühlter Ballbesitz: Spanien 80, Deutschland 20.
Dort ist man nicht im Spiel, auch weil Schweinsteiger und Khedira mit der Defensiv-Arbeit gegen das Mittelfeld-Überzahl-Gewusel beschäftigt sind. Weshalb man sich an so Kleinigkeiten wie einem gewonnenen Corner-Ball aufrichtet.
Anmerkung an dieser Stelle - wie ironisch ist das denn dann, dass der Siegtreffer der Spanier just aus einem Eckball fiel...
In der 2. Hälfte, ich bin mir sicher, wird das anders aussehen. Nicht das spanische Spiel, das greift bis jetzt, dort läßt man sich Zeit und wartet auf den einen Lochpaß, der dann durchgeht. Sondern das deutsche Spiel; denn das sieht zu serbisch aus heute abend in Durban.
Deja Vu, Finale, Juli 08, Wien...
Aber dann wird es mehr und mehr zu einem Deja Vu, immer mehr zu einer Kopie des EM-Finalspiels von Wien.
Spanien ballsicher und auf die eine Chance lauernd, Deutschland zunehmend angstvoller und einfach nicht so dezidiert auf dem Weg nach vorne. Nein, das lag nicht an Thomas Müllers Abwesenheit, das war ein Sache der Einstellung.
Für alle, die sich da jetzt am Kopf kratzen: Löw hat zuletzt öffentlich erklärt, an welchen Teams er sich auf derr Suche nach einer Spiel-Philosophie orientiert hat - die Top-Clubs der Premier League, Barcelona und ... eben Spanien.
Hier nochmal die Einblicke, die Jürgen Klinsmann übers DFB-Team gibt, hier das aussagekräftige Interview von Chefscout Urs Siegenthaler zum Spanien-Spiel.
Und, klar, ein Lob an Krake Paul.
Angesichts des Vorbilds, das die spanische Nationalmanschaft für das DFB-Team war, versagte Löws Team recht kollektiv die Stimme und so piepste man dort, wo man bislang laut und fröhlich gesungen hatte.
Ja, mit Jansen und Kroos lief dann alles noch ein Stückchen schneller, aber spätestens nach der riesigen Doppelchance in der 58. Minute sackte das deutsche Herz noch tiefer in die Hose. Als ob es den Deutschen peinlich war in Gegenwart der Spanier spanisch zu spielen.
Eine echte Torchance im ganzen Spiel - das ist zuwenig. Und es wäre auch nicht okay und gerecht bei dieser sowohl okayen als auch gerechten WM gewesen, wenn man mit nur einer Torchance ins Finale vorgestoßen wäre - die guten Spiele vor allem gegen England und Argentinien hin oder her.
Erst in der 80. Minute stellten Löw/Flick auf ein 4-1-3-2 um, allerdings mit dem Fehlgriff auf den unsichtbaren Gomez (Warum nochmal wurde eigentlich Kießling mitgenommen, als Busfahrer-Assi?), aber dann kamen nur noch hohe Flanken aus dem Halbfeld in den Strafraum, also genau das Spiel, das das deutsche Team hinter sich lassen wollte.
Pflanzen, Bäume und ein neuer Weltmeister
Womöglich zeigte genau das, dass dieses kleine afrika-winterliche Wunder der neuen deutschen Spielkultur eine wunderbare Pflanze, aber eben noch kein echter Baum ist. Denn der hätte eben auch einen echten Plan B im Tornister.
Das in sich wunderbare deutsche System ist zu jugendlich, nicht die Spieler, die es ausfüllen.
Und es brauchte die Begegnung mit dem Vorbild um das zu erkennen, um die Grenze aufgezeigt zu bekommen.
Das ist eigentlich ein herrliches Fazit für beide heutigen Semifinalisten nach diesem sensationellen Spiel, dieser Rasenschach-Novelle, dieser ehrfürchtigen Annäherung an das Göttliche im Fußball.
Die einen bekommen die "Best Young Player"-Plakette und werden mit Ehrenbezeugungen überhäuft - die anderen dürfen sich nach dem EM-Titel auch mit ihrem ersten WM-Finale schmücken.
Und: unser Globus, der immer meint schon alles gesehen zu haben, kriegt endlich was Neues - einen neuen Fußball-Weltmeister.