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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

3. 7. 2010 - 02:29

Scissor Sisters - "Night Work"

Mit Album Nummer 3 tanzen die Scherenschwestern jenseits des Regenbogens. Zeit sich von guten Freunden zu verabschieden.

Wollüstig in die Folterkammer

Die hyperventilierende Plüschattacke von Cut 1, dem Titeltrack, war überstanden. Song Nummer 2, „Whole New Way“, weckte Hoffnungen auf Besserung. Mit dem „Robbie Williams der Feiste“-Gedächtnisschlager „Fire With Fire“ war dann allerdings Schluss mit Camp und Lustig. Die Promo von „Night Work“ landete im Mistkübel.

Scissor Sisters

Polydor

Not Jake Shear's ass

Ein Weilchen später rotierte die CD wieder im Player. Guten Freunden schlägt man schließlich nicht so schnell die Tür vor der Nase zu. Ein bisschen enttäuscht darf man dann aber doch sein. Die Scissor Sisters schielen mit ihrem dritten Album eindeutig auf den WM Titel in den UK-Charts. Dort hatte man schon mit den beiden Vorgängern die größten Erfolge gefeiert. Bereits im ersten Drittel der "Night Work"-Spielzeit soll dann auch alles klar gemacht, die Folterkammer im Tower zu London im Sturmlauf erobert werden.

Grundsätzlich ist das ja auch okay so. Den Sisters war „mehr“ schon immer „zu wenig“. Und bloß die queere Klientel von Downtown Manhattan bis Uptown Wladiwostok zu bedienen, stand auch nicht im Vorspann dieser außergewöhlichen Erfolgsgeschichte. Was verstört, ist die Art und Weise, wie der goldene Inselesel dieses Mal geschlachtet werden soll.

Scissor Sisters

Universal

From Disco To ...

The Harder You Get

You're digging deeper
Love is a creeper
I know the reaper on a first name basis
It ain't Steven
It isn't Adam
I got some apples, if you want them you can grab them

And what I really wanna do tonight is toughen you up

The harder you get
The harder I sweat
Now I'm too wet
To want it all
Beating my trunk
The faster you're done
Can't have one
You want them all

Hell is my heaven
A loaded weapon
Don't point that thing at me unless you plan to shoot
My room is darker
Than any color
I'm not your baby and I'll never be your mother

And what I really wanna do tonight is toughen you up

The harder you get
The harder I sweat
Now I'm too wet
To want it all
Beating my trunk
Faster, you're done
Can't have one
You want them all

You're sensitive to light
We're conjuring the night
You stand up with pride
Attempting to walk
You won't stabilize
Of what's become a life
Stop crying like a child
You got what you want!

You got what you want
And what I really wanna do tonight
Is toughen you up

The harder you get
The harder I sweat
Now I'm too wet
To want it all
Beating my trunk
Faster, you're done
Can't have one
You want them all

Gene Simmons

Kissonline

... Gene Simmons!

Gender und Honky Tonk

Heikle Gender-Themen dem Mainstream servieren, das war eine der Stärken des Scissor Sisters. Mit dem Falsett der Bee Gees und den paradisischen Outfits eines frühen Elton John hat man Klischees der Bi- und Homosexualität so lange geküsst, bis davon nicht mehr viel übrig war. Noch der hetrosexuellste Troll an der Bar flitzte zu den Scissor Sisters mit einer Straußenfeder im Hintern durch den Pub.

Dargeboten mit einer hemdsärmeligen Honky Tonk Klimperseligkeit und der Verschränkung von Disco und Glam-Krachern im Geiste des Electric Light Orchestra gelang 2004 der Sprung auf die große Bühne. Das selbstbetitelte Debüt landete in den UK-Album Charts ganz oben.

Auf dem zwei Jahre später folgenden „Tah Da“ erholte man sich erst einmal vom Erfolgsrausch. Jake Shears und Co. gaben sich nachdenklich und verkatert. Das hinderte die Single „I Don’t Feel Like Dancing“ nicht daran, ungeniert an die Spitze der europäischen Charts zu tanzen. Songschreiber Jake Shears und Sängerin Ana Matronic erteilten Thomas Gottschalk bei „Wetten, dass ...?“ Stylingtipps (ohne Erfolg) und inspirierten eine gewisse Stefani Germanotta in Sachen Glam, Disco & Dance. Doch auch im zweiten Versuch beschränkte sich der Erfolg auf Europa. „Queer“ funktionierte damals im biederen US-Radio noch immer schlechter als im Network und Kabel-TV.

Scissor Sisters

Polydor/Universal

Auf das Katerfrühstück folgte die Funkstille. Beinahe vier Jahre hat es gedauert, bis die Scherenschwestern nun mit einem Nachfolger rausrücken. Dazwischen liegt ein ganzes Pop-Äon. Germanotta lässt sich mittlerweile Gaga rufen. Bis zur Parodie überdrehter und aufgesexter Zuckerpop verklebt nun auch die US-Charts. Die Scissor Sisters haben sich von Drummer Paddy Boom getrennt, den man seit seinem Rauswurf wie einen geschlagenen Hund durch die Lower East Side schleichen sieht. Und das auf ein Quartett geschrumpfte Camp der Scissor Sisters hat ein bereits fertiges Album wieder eingestampft.

Babydaddy und Jake Shears erklären beim FM4-Interview in einem überschicken Hotel in der Lower East Side, „dass sie nicht schon wieder ein Album darüber machen wollten, wie schwer es ist, ein Album zu machen“. Verständlich.
Doch der Weg zurück zur frechen Unbeschwertheit, die das namenlose Debüt beflügelte, dieser Luxus des ersten Albums ist spätestens seit dem Fall aus dem Paradies verstellt. Adam & Adam beziehungsweise Eva & Eva wussten plötzlich nicht mehr, wohin mit all ihren Äpfeln.

Disco Kugel im Dark Room

Shears nahm sich eine Auszeit, tauchte „im schwulen Underground von Berlin“ unter und ließ sich von Neil Tennant (Pet Shop Boys) einschlägig beraten. Einige „noughty“ Parties später stand fest: das neue Album musste ein „Fest der Liebe und ausschweifenden Sexualität werden“. Shears hatte sich unter anderem bei einer Schnauzbart-Orgie in Mannheim inspirieren lassen.

“The Harder You Get”, “Sex & Violence” oder “Skin Tight” – die Songtitel von „Night Work“ lesen sich dann auch wie das Video-Sortiment eines Pornoladens. Zu viel scheint hier tatsächlich noch immer nicht genug. Den Songs wurden S&M Korsette angelegt und Peitschenhiebe verpasst.

Die Platte sei als Hommage an den erotischen Freigeist der Downtown Szene Pre-Aids gedacht, so Shears. Das Cover von „Night Work“ zeigt die knackig verpackten Backen des Tänzers Peter Reed. Geschossen hat das Foto Robert Mapplethorpe irgendwann in den frühen 80er Jahren. Beide Künstler sind mittlerweile an den Folgen von Aids gestorben.

Scissor Sisters

Christian Lehner

Babydaddy und Jake beim Interview im Hotel. Nebenan wurden Szenen für Sex & The City gedreht.

„Die Platte ist eine Fantasie darüber, was passiert wäre, wenn diese Menschen noch leben würden und Aids nicht stattgefunden hätte“, meint Jake Shears ziemlich blond. Hat es nämlich. Und diese revisionistische Projektion ist nicht die einzige schiefe Wand im Freudenhaus von „Night Work“. Dieses Mal sind es nämlich die Scissor Sisters selbst, die mit der Straußenfeder im Hintern durchs Pub flitzen.

Hier tut man alles, um den gängigen Chart-Klischees "ur, arg & sexy" gerechet zu werden. Die Scherenschwestern fighten einerseits in der Gosse mit vulgären Popsternchen wie Ke$ha oder der wieder einmal neu zusammengebauten Christina Aquilera. In anderen Momenten versucht man sich im Wimpernschlag der etwas reiz- und stilvolleren Pop Selbstbestimmerinnen Robyn oder La Roux. Die Vorreiter machen sich also selbst zu Nachzüglern. Und dann gibt es eben noch Robbie Williams, den Feisten, ein paar einfältige Bee Gees Kniffe und ...Gene Simmons von KISS!

An dessen gigantischer Rock & Roll Libido habe Jake Shears beim Schreiben von „The Harder You Get“ dann tatsächlich gedacht hat, sagt er im Interview.

Neben Neil Tennant sind im Rahmen von „Night Work“ noch andere Advokaten und Kollaborationspartner in Erscheinung getreten: Babbydaddy und Shears nannten die Namen Alison Goldfrapp und Santigold. Stuart Price von Zoot Woman hat das Album produziert und irgendwie scheint es, als ob sie alle Ratschläge erteilt hätten, die sie nie und nimmer in ihren eigenen Produktionen verwirklicht sehen wollten.

Der englische Soundstilist hat den Sisters eindeutig zu viel Make Up aufgetragen. Die Leisen Zwischentöne sind verschwunden - auch das fröhlich schäbige Honkey Tonk Geklimpere. Musikalisch regiert die breite Brust. Doch trotz hedonistischem Hurra hört man dem Album die verbissene Arbeit an, mit der versucht wurde, über stilistische Streuung zumindest ein Ding im schwarzen Nirgendwo der zeitgenössischen Geschmacksverwirrungen zu versenken. Insofern passt der Titel des Albums ganz gut.

Höhepunkt in Babylon

Nicht, dass das alles frei von Reiz und Kitzel wäre. S&M und Dildokostüm machen sich sicher gut auf der nächsten Themenparty oder im Leather Daddy Club deiner Wahl. Und das große Ding von einem lechzenden alten Lüstling namens „The Harder You Get“ ist großer 80er Metal, dargebracht in der „I Was Made For Loving You Baby“ Disco Stellung.

Gandalf

New Line Cinema

Gandalf bei einer etwas anderen S&M Party

Der richtige Knaller sitzt aber am Ende. Vor der dionysischen Hymne „Invisible Lights“ ziehe ich meinen Zauberhut. Kein Geringerer als Sir Ian McKellen, bekannt als Gandalf aus „Herr Der Ringe“ gibt den großen Erzähler dieser epischen, orgiastischen Techno-Nacht in Babylon.

Mit „Night Work“ sind die Scissor Sisters nachhaltig bei Après Ski, Wetten, dass ...?! und Ballermann angekommen. Dass sie immer schon von der Übertreibung gelebt haben und angesichts der nachrückenden Vulgärkonkurrenz noch eins draufsetzen wollen, kann man ihnen allerdings nicht wirklich übel nehmen. Trotzdem ist es Zeit geworden, sich von guten Freunden zu verabschieden. Viel Glück, Liebe und guten Sex wünsche ich Euch, dort, jenseits des Regenbogens, auf der Nummer 1 Position der UK-Charts!?