Erstellt am: 30. 6. 2010 - 16:56 Uhr
WM-Journal '10-66.
Seit 1. Juni erscheint das WM-Journal zum Turnier in Südafrika - mit einer Ausgabe pro Spiel und zusätzlichen Analysen.
Hier auch in der Übersicht.
Das WM-Journal gibt es auch als Podcast, einmal täglich, gegen Mittag. Heute später, heute höngt wieder einmal etwas...
Die Fakten zum Achtelfinale.
Die FIFA-Seite, die WM-Spezial-Site der Sport-Kollegen und alle FM4-Stories zur WM, alle Südafrika-Geschichten.
Das FM4 WM Quartier im Wiener WUK - mit In- und Outdoor-Screens für jedes Wetter.
Ein mir gut Bekannter, an sich intelligenter Mensch, hat mich gestern abend beim Public Viewing im WUK gefragt, warum ich die Aufstellungen des aktuell laufenden Spieles auf einen Zettel malen würde. Ich habe ihm nicht meine Standard-Abwehr-für-Deppen-Antwort gegeben ("Ich berechne da den Maya-Kalender neu!"), sondern die Wahrheit gesagt: dass sowas nämlich bei so vielen Spielen und so vielen Teams für eine seriöse Analyse schon nötig ist. Für ein Spiel oder eine Mannschaft könnte man sich das schon merken - aber auch bei dieser WM sieht man immer einen Assistenten auf der Bank der genau das macht.
Andernfalls würde es mir ja wie den Experten ergehen, die in Print und Sehfunk tagtäglich eingestehen, dass sie (sehenden Auges) nichts erkennen können.
Herbert Prohaska etwa, von vielen ob seiner Expertise und seines (allerdings nur privat gezeigten) Schmähs hochgeschätzt, lässt in der Abendausgabe der heutigen Kronen-Zeitung folgendes schreiben: "Interessant ist auch die Offensiv-Variante der meisten Teams. Fast alle spielen ein 4-2-3-1-System mit einer echten Spitze ganz vorne."
Schauen und sichten
Das bestätigt, dass er in Wahrheit entweder Rosamunde Pilcher auf ORF 2 anschaut oder während der Matches geistig abwesend ist und sich auf den automatischen Phrasen-Rausschieß-Modus verläßt, und sich auf die komplette Ahnungslosigkeit von 99% des Publikums verläßt.
Und unterscheidet sich damit genauz gar nicht von meinen an sich intelligentem Bekannten, der auch hinsieht, aber außer Cristiano Ronaldos Frisur nichts erkennen kann.
Zu Herrn Prohaskas Entschuldigung: zu seiner Zeit (das kann man wunderbar in den alten tw1/Sport Plus-Wiederholungen alter Austria-Spiele aus den 70ern und 80ern nachschaun) war die strikte Raum- und Rollenaufteilung im Mittelfeld noch nicht üblich. Da hat jeder gemacht, was er wollte. Diese Zeiten sind allerdings lange vorbei. Die entsprechende Erkenntnis hat sich allerdings noch nicht so recht durchgesetzt...
Im Gegensatz zu Prohaska hat der allerdings seinen Blick auch nie für das "Dahiunter" geschult - er kann es nicht.
Die Experten, das unterstelle ich einmal wohlwollend, wollen nur nicht.
Denn: offensichtlicher als bei diesem WM-Turnier kann man es nicht vorgeführt bekommen. Die geraden Systeme wie das angesprochene 4-2-3-1 sind in der Minderzahl.
Diese WM spielt schief.
Die Asymmetrie, sie lebe hoch!
Acht der zwölf besten Teams des Turniers haben ihre Strategie entweder sehr beewußt schiefgerückt oder vertrauen zumindest in bestimmten Situationen auf den Reiz der Asymmetrie.
Brasilien, Spanien, Argentinien, Uruguay, Paraguay, Chile, Mexico und auch England (die allerdings unfreiwillig, außerdem noch Dänemark und Algerien) vertrauen auf diese neue Flexibilität.
Und weil Portugal viel switcht, sind es unter den Top-Nationen exakt nur Deutschland, Holland und, mit etwas Nachsicht, Ghana, die auf das starr interpretierte 4-2-3-1 vertrauen (der Vollständigkeit halber: auch Südkorea, Südafrika, Australien und teilweise die USA gingen so vor).
Apropos vorzeitig ausgeschiedene Westafrikaner, apropos peinlich: die aktuelle Hysterie-Aktion, die der nigerianische Präsident losgetreten hat, zeigt, dass man zumindest im größten Verband des Kontinents die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt hat und sich weiter in der kontinentalen Disziplin der sinnlosen Selbstzerfleischung übt.
Dazu kommen einige 4-3-3s (die drei ausgeschiedenen West-Afrikaner und die peinlichen WM-Finalisten von 2006) und einige 4-4-2s (Slowenien, Schweiz), ein paar 4-5-1-Fächer (Japan, Serbien, zuletzt auch Portugal) und das Chamäleon Slowakei.
Besonderheiten wie das neuseeländische 3-4-3 oder das nordkoreanische 5-4-1 runden die Sache ab.
Alles recht interessant, aber eben schon gehabt und durchanalysiert. Und weil sich die Erkenntnisse solcher Turniere vor allem in Österreich sehr langsam durchsetzen, erzählen uns die Experten jetzt die von 2006 oder (im besseren Fall) 2008.
Wir schreiben aber 2010.
... und 2010 spielt asymmetrisch
Credits auch an Poster eric7, der mich nach der gestrigen Ankündigung die akute Schiefheit heute besprechen zu wollen, mit diesem wichtigen Link versorgt hat.
Brasiliens Einser-Panier etwa ist im Mittelfeld aufgestellt wie ein Hühnerhaufen. Aber einer, der weiß wo er hinlaufen soll, wenn er angegriffen wird bzw wenn er angreift.
Argentinien kann mit den Außenpositonen jonglieren wie ein Trickdieb.
Uruguay läßt den Gegner sowohl in der Defensive als auch in der Offensive im Unklaren über die aktuelle Ausrichtung.
Und Spanien bestreitet eine Spiel mit einem rechten Flügel ohne Links-Entsprechung und das nächste dann mit einem linken Flügel ohne rechtes Pendant.
Dabei geht es weniger darum Verwirrung auszulösen, sondern die vorhandenen Ressourcen so clever wie möglich einzusetzen - also die Spieler nach ihren Möglichkeiten optimal einzusetzen.
Und es geht darum durch das zeitweilige Einsparen von bestimmten Positionen Überzahl-Situationen in anderen, weiten Teilen des Feldes zu erzielen.
Wie wir bereits in diversen Journalen hier, die sich mit den Strategien vor allem der Südamerikaner (die zu viert im Viertelfinale stehen, aber von den Prohaskas trotzdem als "überschätzt" angesehen werden) beschäftigten, festgehalten haben, sind diese immer tagesaktuell ausgearbeiteten Pläne und frischgemalten Speisekarten auch auf die Unterlegenheit vor allem der kleineren südamerikanischen Teams zurückzuführen.
Wenn man in Punkto Spielermaterial, Körperlichkeit, ökonomische Möglichkeiten etc hinten ist, das bleibt nur das Hirnschmalz als Möglichkeit sich zu unterscheiden und den an sich Besseren, den Großen auszutricksen.
Das Fußball-Prekariat schlägt zurück
Das ist die Antriebsfeder: eine durch eine Art fußballerisches Prekariat erzwungene Neugier, die intelligente Produkte schafft.
Um da nicht komplett in der verschriftlichen Theorie steckenzubleiben zeichne ich das einmal auf.
Anmerkung:
diese Skizzen sind auch deswegen so hingeschmiert um zu zeigen, dass jeder sowas machen kann. Das ist keine wissenschaftliche Hexerei, nur eine Übertragung dessen, was aufm Platz ist, auf ein Stück Papier. Nicht einmal schreiben können muss man dazu. Falls ich mich mit einer Nummer geirrt habe (kommt vor, wenn man Zahlen malt) - schreibts mir das, ich merk es dann an.
Radio FM4
Zu Beginn das, was laut Prohaska der Standard sein soll.
Die Holländer spielen das in Vollendung, ohne Schnörkel, ohne große Rochaden. Bei Bert van Marwijk wird aus dem 4-2-3-1 schon ein 4-2-4, so sehr schaltet sich auch Sneijder (10) in die Offensive ein, so wenig beteiligt sind die Defensiven im Mittelfeld (6 und 8).
Radio FM4
Gänz ähnlich handhabt das Jogi Löws Team. Die beiden Außen Müller (13) und Podolski (10) stoßen eher aus dem Mittelfeld vor. Und die Unberechenbarkeit von Özil (8) sowie das disziplinierte Spiel von Schweinsteiger (7) machen den Erfolg der Deutschen aus.
Beide Systeme leben nicht von Rochaden (ist bei den Holländern geradezu verpönt) oder ihrer Flexibilität, sondern von der Dynamik im Offensivfall.
Radio FM4
Weniger starr, mit mehr Risiko spielt Ghana sein ursprüngliches 4-2-3-1 aus. Obwohl auch hier sich die (sonst so gern gepflegten) Rochaden der Flügelspieler in Grenzen halten. Inkoom (7) tauchte so gut wie nie links auf, Andre Ayew (13) beschränkte seine Ausflüge auf ein Minimum.
Wichtigstes Erfolgsrezept: die Arbeitsteikung zwischen Asamoah (21) und Kevin Prince Boateng (23), die sich das zentrale offensive Mittelfeld aufteilen.
Radio FM4
Wie erzielt man Überzahlspiel in der Offensive ohne seinen besten Spieler aus der Zentrale abzuziehen?
Radio FM4
Mexico in der Schlußphase von Spiel 2 gegen Frankreich: die Hereinnahme von Joker Barrera (7) sorgt für einige Schiefigkeit.
Camp Maradona zeigt es vor: damit Messi (10) hinter den zwei Spitzen sein gefahrenvolles Unwesen treiben kann und die beiden Flügel trotzdem offensiv besetzt sind, opfert man (nominell) den Posten des rechten Verteidiger und läßt dort Mittelfeldspieler Gutierrez (17) gleich die Aufgaben erfüllen, für die auf der linken Seite Heinze (6) und Di Maria (7) gemeinsam zuständig sind. Das geht, weil Mascherano (14) und auch Veron (8) eventuelle Troubles shooten können.
In weiterer Folge ging es Argentinien dann etwas herkömmlicher an. Auch weil Veron sich verletzte. So bekam die rechte Seite auch zwei Beackerer. Allerdings kann die Albiceleste jederzeit zu dieser Variante switchen.
Radio FM4
Auch schief: das 4-3-3 von Paraguay. Vera (13) spielt rechts im Mittelfeld, hat aber kein linkes Pendant (erst viel später im Spiel, als der Sieg gesichert war, kam Torres auf die entsprechende Position). Dafür spielt Nelson Valdez, der flexibleste der gleich vier erstklassigen Paraguay-Stürmer eine Art linken Flügel in einem Dreiersturm, der wiederum rechts keine Entsprechung hat.
Auch eine kreative Lösung um Überzahl zu schaffen.
Radio FM4
Oscar Washington Tabarez' Team Uruguay ist ein wahrer "Master of schief". Im ersten Match haben sie es mit einem 3-4-1-2 probiert, das hat nicht geklappt, also wurde die vorliegende Version ausgepackt. Und mit der flutscht es.
Maxi Pereira (16) macht einen Rechtsverteidiger mit Vorwärtsdrang, während Fucile (4) sich eher als linkes Glied einer Dreierkette betrachtet. Vor ihm spielt Alvaro Pereira (11, nicht verwandt, einen klassischen linken Mittelfeldspieler. Auf rechts gibt es so etwas nicht. Diego Perez (15) bleibt strikt im Zentrum. Also läßt sich Cavani (7) auf den rechten Flügel fallen. Weil mit Forlan (10) einer der intelligesten Spieler unserer Tage die Offensive dirigiert, geht dieses verschlungene System auf.
Da ist der erste der angesprochenen Nummer-Irrtümer: mit dem 10er ist der 6er gemeint, der im Text erwähnte Iniesta. Sorry dafür, aber deswegen mal ichs jetzt nicht nochmal.
Radio FM4
Noch viel krasser hat das gestern Spanien vorgeführt. Vicente del Boaque hat schon im ersten Match "schief" gespielt (damals mit Jesus Navas als Rechtsaußen), diesmal hat er für einen schwierigen Gegner den passenden Trick gewählt. David Villa (7), der weitaus gefährlichste Angreifer spielt praktisch ausschließlich über die linke Seite. Wer in das Vakuum rechts vorstoßen wird, ist für den Gegner nicht zu erkennen. Oft ist es Rechtsverteidiger Sergio Ramos, gern auch Iniesta oder Xavi. Eine Position bewußt offen zu lassen und die Spieler dazu zu zwingen dort reinzustoßen, schafft quasi einen 12. Spieler und damit Feldüberlegenheit.
Radio FM4
Die echten Kings of Schief: Dungas Brasilianer.
In der vorliegenden Form geht das nur dem genau diesem Personal. Als im Achtelfinale Elano (7) und Felipe Melo (5) ausfielen und Dani Alves sowie Ramires ihre Plätze übernahmen sah alles gleich wieder anders aus. Beide interpretieren ihre Rolle ein Stück offensiver (was für den Gegner Chile durchaus richtig war).
In dieser geplanten Grundformation, die in den Spielen 1 und 2 auch so zu sehen war, macht Elano so etwas wie einen halbrechten Mittelfeldspieler, während Robinho (11) einen echten linken Flügel gibt. Luis Fabiano (9) wiederum kommt deshalb nicht zentral, sondern aus einer halblinken Position. Auch um für Kaka (10) Platz zu schaffen. Außerdem kommen die Offensiv-Fähigkeiten von Maicon (2) so besser zur Geltung.
Das ist ein hyperintelligentes, genau auf die Fähigkeiten der Akteure eingetuntes System.
Radio FM4
Ein irgendwie irrtümliches "schiefes" Konzept ist Fabio Capello bei den drei letzten Spielen der Engländer passiert. Auch weil England das Gegenteil von dem, was die lateinamerikanisch/europäischen Teams auf die Reihe bringen pflegt: Spieler ungeachtet ihres Könnens in ein Korsett pressen.
Diesen Luxus können sich die Coaches der weltbesten Clubs leisten - als Nationalteam-Coach muss man mit dem vorhandenen Potential auskommen; und das ist im Fall Englands eben ungleich verteilt. Man hat etwa sehr viele gute 8er, also Mittelfeldspieler mit Aufbau- und Marschier-Fähigkeiten, aber keine Zehner und wenige gute Stürmer.
Capello preßte also einen seiner unverzichtbaren Achter, Steven Gerrard in sein System und wies ihm die linke Mittelfeldseite zu. Liverpool-Kapitän Gerrard kann in jeglicher Position in der Zentrale spielen, auch hinter den Spitzen, an der Flanke ist er aber verloren. dementsprechend zog es ihn auch dauernd weg von dort, weshalb Englands System schief geriet (bei Rapid gibt es einen seit Jahren schwelenden ähnlichen Fall mit dem dortigen Kapitän auf der rechten Seite).
Weil nun der Zufall (zumindest außerhalb von Österreich) nicht als gerade bedeutender Faktor für den Erfolg beim Fußballspiel anerkannt wird, bringt diese unabsichtliche Schieflage gar nichts.
Im Gegenteil: England beraubt sich einer Position.
Und steht damit im krassen Gegensatz zu den Meistern, die mit ihrer Asymmetrie, ihrer Schieflage Überzahl erzeugen.
Radio FM4
Das letzte Wort gehört den Meistern - nicht unbedingt denen der Schieflage; denn dazu ist Marcelo Bielsas Grundsystem schon zu flexibel und gewagt. Manchmal aber bricht es doch durch, wie etwa im Notsystem gegen Brasilien. Da lappt die (sonst immer ganz klare) Dreierkette ganz bewußt manchmal in eine Viererabwehr - mit Vidal (8), manchmal geht aber auch Jara (18) mit und hinterläßt eine reine Zweier-Verteidigung. Weil Isla (4), sonst der rechte Mann im Mittelfeld in dieser Formation halbrechts zentral spielt, hängt nicht nur das Mittelfeld, sondern auch der 4er-Angriff.
Weil Bielsa pro Spiel locker drei/viermal umstellt, war dieses System nur ein Teil des großen Flusses, belegt aber dass dieses taktisch beste Team des Turniers auch das konnte/könnte.
Magneten statt Wuzzlertum
Die hierzulande immer noch rückständige und so putzig-altmodisch anzusehende Aufarbeitungs-Kultur von Fußball (egal ob in Print-Pre- oder Reviews oder in TV-Graphiken) hat in den letzten Jahren zwar Boden gutgemacht, befindet sich so immerhin nicht mehr in der Steinzeit, hat die Renaissance allerdings noch deutlich vor sich.
Die statischen Annahmen von starren Systemen, dieses auf der Basis kollektiver Wuzzler-Erfahrungen verinnerlichte Ding (das auch die Freiheit sich aus blanker Denk- und Handlungsfaulheit nicht damit beschaftigen zu müssen beeinhaltet) wird bei dieser WM auf den Misthaufen der Geschichte befördert.
Was international jeder Pimperl-Coach bzw dessen Analyse-Assi im Schlaf checkt (dass man fluide Systeme auch entsprechend als solche erkennt, wozu auch eher die kleine Magnettafel und eine ordentliche strategische Aufarbeitung gehören) also ein zeitgemäßes Taktik-Tool für ein Normal-Publikum, wird hierzulande (aufgrund der schon oben erwähnten Verzögerung) frühestens bei der WM 2014 im Einsatz sein. Und dann natürlich auch wieder entsprechend überholt sein.
Denn der Fußball an sich, dieses wilde wuchernde und wuchtige Spiel, ist in seinem Fortschreiten um Eckhäuser schneller als die schlafmützigen Experten aus der Zeitlupen-Ära und ihre an seiner Seele so desinteressierten Medien-Höflinge.